Dann gute Nacht Marie
von ihrer Mutter gemacht. Wenn dieses hier Teil einer so renommierten Ausstellung war, konnte sie aus ihrem eigenen eventuell auch noch mehr Kapital schlagen. SPEICHERN.
Auf dem Heimweg beschloss Marie, die besagte Fotografie alsbald herauszusuchen, denn dass sie der Zensur nicht zum Opfer gefallen war, wusste sie. Wenn sie in den nächsten Tagen eine Vergrößerung in Auftrag gab, konnte sie mit diesem Kunstobjekt sowohl ihre Wohnung als auch ihr Image aufwerten. Außerdem wäre die Mutter nach ihrem Tod sicher geschmeichelt, wenn sie ihr Konterfei im Wohnzimmer der Tochter vorfand. Das konnte nicht schaden.
Zu Hause angekommen stürzte Marie fast zum Bücherregal, in dem sie das zensierte Fotoalbum nach seiner Fertigstellung untergebracht hatte. Und tatsächlich fand sie das gesuchte Bild schon bald unter ihren Urlaubsfotos. Eine ganze Weile saß sie mit dem dicken Buch auf den Knien auf dem Wohnzimmerboden und betrachtete die Mutter, die auf dem Foto so ungewohnt erholt und entspannt aussah. Gerade als sie das Bild, das erst vor Kurzem seinen Platz an dieser Stelle gefunden hatte, wieder herausnehmen wollte, klingelte es an ihrer Wohnungstür. OPTIONEN … Normalerweise bekam sie nie unangemeldeten Besuch und am Sonntagabend schon gar nicht. Und dass Ratzek um diese Zeit am Wochenende seiner Aushilfshausmeistertätigkeit nachging, war eher unwahrscheinlich. Marie hatte kurz überlegt, ob sie die Türglocke einfach ignorieren sollte, doch schließlich hatte die Neugier gesiegt.
Als sie jetzt im Bett noch einmal darüber nachdachte, wie erstaunt sie beim Öffnen der Tür gewesen war, musste sie lächeln. Ihr nicht mehr allzu langes Leben hielt für sie fast mehr Überraschungen bereit als sämtliche Jahre zuvor.
»Gott sei Dank, du bist zu Hause.« Elmar, ihre Zufallsbekanntschaft aus der Kneipe, hatte vor der Tür gestanden und sie angestrahlt, als sei sie seine letzte Rettung. »Meine Freundin hat irgendwie zu viel gekocht, und da wollten wir dich fragen … Ich hoffe, du magst Chili con carne?«
»Ja, schon …« Marie war so überrascht, dass sie kaum wusste, was sie antworten sollte. Im Gegensatz zu ihr hatte ihre neue Hausbekanntschaft keine Probleme, die passenden Worte zu finden.
»Super, dann komm doch in einer Viertelstunde runter zu uns. Das Essen ist gleich fertig.« Sprach’s und sauste die Treppen hinunter.
»Wie findest du denn das?« Marie wandte sich zu Kasimir, doch der schaute sie nicht einmal an. »Ich geh einfach nicht hin.« Fall erledigt!
Auch das schien den Kater überhaupt nicht zu interessieren. Und je länger sein Frauchen darüber nachdachte, desto unwohler fühlte es sich mit dieser sehr unfreundlichen Lösung. Nun gut, lange waren Elmar und sie ohnehin keine Nachbarn mehr, doch eigentlich machte man so etwas nicht. Außerdem wollte sie ja keinesfalls, dass man im Haus nach ihrem Tod schlecht über sie dachte oder sogar sprach. SPEICHERN.
»Na gut, absagen kann ich ja wenigstens.« Wieder zeigte Kasimir keinerlei Reaktion, doch Marie fand das eine gute Lösung. Sie griff sich ihren Wohnungsschlüssel
und stieg zwei Treppen tiefer. Als Elmar die Tür öffnete, wirkte er so erfreut über ihr Kommen, dass sie es nicht fertigbrachte, ihm eine Absage zu erteilen. Stattdessen ließ sie sich von ihm in die Wohnung führen, die spiegelverkehrt zu ihrer, aber ansonsten genauso geschnitten war. Im Vergleich zu ihren Räumen war zwar alles ein bisschen unordentlicher, aber auch deutlich farbenfroher. Elmar hatte in seinem Wohnzimmer eine der Wände hellgrün gestrichen, was Marie überraschend interessant und sogar wohnlich fand. Die bunt gemusterten Vorhänge und der zitronengelbe Teppich passten erstaunlich gut dazu. Die Wohnung wirkte einladend und freundlich.
»Ich hoffe, du hast genügend Hunger mitgebracht«, rief eine Stimme aus der Küche, die nur zu Elmars Freundin gehören konnte. Gleich darauf kam sie, ein Geschirrtuch um die Hüften gebunden, zu ihnen herüber und drückte dem unbekannten Gast die Hand. »Hallo, ich bin Jutta. Ich freu mich so, dass Elmar endlich mal jemanden aus dem Haus kennengelernt hat. Sicher hast du ihn angesprochen - er ist da nämlich immer ein bisschen zurückhaltend.«
»Ganz im Gegenteil. Er hat das formvollendet in die Hand genommen, sowohl heute als auch letztens in der Kneipe.« Dass das inzwischen die einzige Möglichkeit war, mit ihr in Kontakt zu kommen, verschwieg Marie. Ihr erster Eindruck von Jutta war so positiv, dass es den beiden
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