Dann gute Nacht Marie
Kasse näherte, stürmte ein Mann mit einer Strumpfmaske über dem Kopf in den Verkaufsraum und fuchtelte mit einer Waffe vor der Nase der erschrockenen Kassiererin herum: »Mach die Kasse auf und alles da rein!« Er hielt ihr eine Plastiktüte hin und zielte mit der Pistole auf die Kunden: »Und ihr bleibt, wo ihr seid! Sonst knallt’s!«
Während die überforderte Verkäuferin mit zittrigen Fingern versuchte, das Geld aus der Kassenschublade in die Plastiktüte zu stopfen, schob sich Marie hinter dem Rücken des Mannes vorsichtig mit ihrem Einkaufswagen in Richtung Ausgang, nicht ohne den Räuber ständig im Blick zu behalten. Sie hatte nicht die geringste Lust, den Abend dieses so entspannten Tages als Geisel im Supermarkt zu verbringen oder stundenlang von irgendwelchen
unmotivierten Polizisten ihre Zeugenaussage zu Protokoll nehmen zu lassen. WEITER. Sie hatte schließlich noch viel vor. Sie musste - zumindest imaginär - einen ganzen Krimi schreiben. Dafür konnte es zwar nicht schaden, live an einem Verbrechen teilzuhaben, doch durfte der Schuss natürlich nicht, im wahrsten Sinn des Wortes, nach hinten losgehen. Marie wunderte sich über sich selbst, dass sie in einer doch lebensbedrohlichen Situation so pragmatisch über ihre Alltagsgeschäfte nachdenken konnte. Vermutlich der Schock.
Der Plan war: Sie musste unbedingt vor dem Täter aus dem Laden. Der hatte offensichtlich die Ruhe weg und ließ sich nun auch noch die andere Kasse öffnen. Ein anscheinend erfahrener Räuber mit hohem finanziellem Bedarf, analysierte Marie und schielte zur Tür. In ungefähr fünf Metern Entfernung winkte die Freiheit und ein gemütlicher Abend mit Bridget. Gerade, als der Täter unter Mithilfe der Kassiererin auch die zweite Kasse geplündert hatte und sich zur Tür wandte, war Marie schon dort angekommen. Den Wagen mit den Weinflaschen hatte sie auf dem Weg dorthin zurückgelassen - ein Gelingen der Flucht mit heilem Körper war jetzt vorrangig.
Als der Maskierte, der es nun doch eilig zu haben schien, in Richtung Tür rannte, glaubte sie schon, er hätte es auf sie abgesehen. Zu Tode erschrocken sprintete sie los, stolperte auf der Treppe zum Vorplatz und stürzte einige Stufen in die Tiefe. Von wegen mit heilem Körper … Der Mann mit der Pistole nahm jedoch überhaupt keine Notiz von ihr, sondern rannte mit seiner vollen Tüte an ihr vorbei. Marie sortierte zitternd ihre Knochen und Gelenke und versuchte aufzustehen. Offensichtlich war alles noch dran und unversehrt. UNTERSTREICHEN.
Sie lehnte sich mit weichen Knien um die Ecke gegen eine Mauer und atmete ein paarmal tief durch. Erst jetzt wurde ihr fast übel bei dem Gedanken, was ihr in den letzten Minuten alles hätte passieren können. Gerade noch rechtzeitig war sie vom Tatort verschwunden, denn kurz darauf hörte sie die Polizeisirene, die die nahenden Beamten ankündigte. Zum Glück musste sie sich mit ihnen nicht auseinandersetzen. Als sich ihr Herzklopfen wieder etwas beruhigt hatte, wurde Marie bewusst, dass sie nicht nur einer polizeilichen Endlosbefragung, sondern auch weit unangenehmeren Folgen wie Verletzung, Lähmung oder gar Tod entgangen war. Zum Glück. Sie durfte gar nicht länger darüber nachdenken, wie schrecklich dieser Tag hätte ausgehen können. Fast wäre es aus gewesen - aus mit sämtlichen Nachlasszensuren, aus mit ihren Krimirecherchen, für immer aus mit dem Leben der Marie Hartmann. Hätte der Räuber nur einen einzigen schwachen Moment gehabt und die Nerven verloren, dann wäre es vielleicht ganz schnell vorbei gewesen. Oder auch langsam und schmerzhaft… Einen kurzen Moment dachte Marie darüber nach, die Episode noch irgendwo in ihrem Nachlass unterzubringen. Schließlich passierte so ein Supermarkt-Überfall nicht allzu oft, sodass er ihrem Leben durchaus etwas mehr Nervenkitzel verleihen konnte. Doch eigentlich wollte sie gar nicht mehr daran denken und lieber nach vorne schauen. Sie hatte überlebt. Der nächsten Seminarsitzung und dem Krimidinner mit Lutz Maibach stand nichts mehr im Weg. Außer vielleicht der Mangel an einer zündenden Romanidee. UNTERSTREICHEN. Aber unmittelbar nach einem derart schockierenden Erlebnis konnte wirklich niemand von ihr verlangen, sich noch Gedanken über einen Krimi zu machen.
Und nun war schon wieder Mittwoch, und sie war sich noch immer nicht sicher, mit welcher spannenden Krimihandlung sie Lutz Maibach beeindrucken und vor allem zufriedenstellen sollte. In den vergangenen Tagen hatte
Weitere Kostenlose Bücher