Dann gute Nacht Marie
hatte sie nicht zu Hause sehnsüchtig auf seinen Anruf gewartet und außerdem noch eine dramatische Geschichte zu seiner Ablenkung auf Lager. Hoffentlich nicht zu dramatisch, dachte Marie noch und schlief ein. COMPUTER AUSSCHALTEN. ENTER.
Am nächsten Tag fuhren Vater und Tochter gleich nach dem Frühstück ins Krankenhaus, um Monika Hartmann noch vor ihrer Operation kurz sprechen zu können. Leider
hatte man den Plan kurzfristig noch einmal geändert, sodass die Mutter bereits auf dem Weg in den OP war, als sie nach ihr fragten.
»Falls sich bei der Operation herausstellen sollte, dass die Zyste bösartig ist und bereits umliegendes Gewebe befallen hat, müsste man unter Umständen die Eierstöcke komplett entfernen«, erklärte ihnen der behandelnde Arzt. »Mit zunehmendem Alter steigt das Risiko dafür deutlich an. Machen Sie sich trotzdem keine Sorgen, auch in diesem Fall hat Ihre Frau gute Heilungschancen.«
Auch wenn sie Lutz vor einem Tag noch gerne die dramatischste aller Geschichten aufgetischt hätte, wünschte Marie in diesem Moment, die Sache möge einfach nur unspektakulär gut ausgehen. Dass sie die Mutter nicht noch einmal hatte sprechen können, lag ihr ebenso im Magen wie der Gedanke an eine mögliche Krebserkrankung.
Während sie mit dem Vater vor der geschlossenen OP-Tür wartete, gingen Marie die verschiedensten Dinge durch den Kopf - Erinnerungen an die schönen Momente ihrer Kindheit, aber auch Meinungsverschiedenheiten und Probleme. Schließlich musste sie sich selbstkritisch eingestehen, dass der Kontakt mit den Eltern in den vergangenen Jahren vor allem unter ihren eigenen Ansprüchen gelitten hatte. Sie selbst hätte ihnen gerne irgendwann einen Schwiegersohn und Enkelkinder präsentiert. Die Mutter dagegen hatte nie konkret danach gefragt. Doch Maries Angst vor einem Gespräch über ihre »Versäumnisse« hatte Telefonate und Treffen immer häufiger auf das Nötigste beschränkt. ÄNDERN? Vielleicht konnten sie nach gelungener Operation endlich einmal in Ruhe darüber reden.
Der Gedanke, dass der Mutter eventuell die Eierstöcke entfernt werden mussten, weckte in Marie außerdem die Erinnerung an den eigenen Kinderwunsch, den sie für sich schon zu den Akten gelegt glaubte. Wer dachte schon wenige Tage vor seinem Tod noch über Nachwuchs nach? Neun Monate oder länger wollte sie schließlich nicht mehr damit warten. Trotzdem hoffte sie in diesem Moment - neben dem Vater vor dem OP sitzend -, dass der Befund bei der Mutter gutartig und eine erbliche Vorbelastung für sie selbst deshalb unwahrscheinlicher sein möge.
Zum Glück sagte der Arzt genau das, als er wenig später durch die Schwingtür kam. Die Operation war gut verlaufen, die entfernte Zyste sehr wahrscheinlich gutartig und außerdem »alles noch dran beziehungsweise drin«. Erleichtert machten sich Vater und Tochter auf den Weg zur Intensivstation, wo Monika Hartmann zur besseren Beobachtung bis auf Weiteres untergebracht war. Aus der Narkose aufgewacht, schien Maries Anblick sie so zu erfreuen, dass sie zunächst ganz vergaß, nach dem Befund zu fragen.
»Schön, dass du da bist!«, sagte sie mit einem matten Lächeln, »geht’s dir denn auch gut?« Wie immer kam zuerst die Sorge um die Tochter, die diese nun auch als solche akzeptieren konnte. Weil die Patientin für ein ausführliches Gespräch aber noch zu schwach und müde war, verabschiedeten sich Marie und ihr Vater recht bald und versprachen, am Nachmittag noch einmal vorbeizukommen.
Als sie einige Stunden später allein am Bett der Mutter saß, konnte sie erleichtert feststellen, dass diese im Gesicht schon wieder etwas Farbe bekommen hatte.
Trotz aller in den letzten Tagen gewonnenen Erkenntnisse fiel es Marie schwer, ihre Gefühle in Worte zu fassen. Doch da Monika Hartmann immer noch zu erschöpft war, um so viel zu reden, wie es sonst ihre Art war, blieb der Tochter nichts anderes übrig, als den ersten Schritt zu tun.
»Ich hab mir wirklich Sorgen um dich gemacht«, gestand sie der Mutter. Noch vor ein paar Tagen hätte sie nicht gedacht, dass sie so etwas je zu ihr würde sagen können. »Zum Glück hast du alles gut überstanden.«
»Wenn ich dich sehe, Marie, geht es mir gleich deutlich besser. Schade, dass du so selten heimkommst.« Was Marie vor Kurzem noch als Vorwurf verstanden hätte, hörte sich für sie jetzt eher nach Sehnsucht an. Deshalb traute sie sich endlich, ihre Ängste auszusprechen.
»Ich hab immer gedacht, ihr wünscht euch so
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