Dann gute Nacht Marie
neuen Bücher mitgenommen
- dass sie die überhaupt noch anschauen würde, hätte sie noch vor einigen Tagen nicht gedacht -, doch die Gedanken an den bevorstehenden Besuch bei den Eltern und die Krankheit der Mutter ließen ihr keine Ruhe. Zu lange schon hatte sie kaum noch Kontakt zu ihnen gehabt. Bei jedem Telefonat hatte sie die Frage »Was gibt es Neues?« als unmissverständliche Aufforderung empfunden, ihrem Leben endlich eine andere Wendung zu geben. Das Interesse ihrer Mutter hatte sie immer nur als ungeduldiges Warten auf Karriere, Hochzeit und Kinder gedeutet. UNTERSTREICHEN.
Als er Marie vor der Haustür erblickte, strahlte Vater Hartmann, als hätte er im Lotto gewonnen.
»Kind, schön, dass du so schnell kommen konntest! Hoffentlich bekommst du in deiner Firma keine Schwierigkeiten.« Pflichtbewusst wie eh und je. Doch Marie bemerkte zum ersten Mal die elterliche Sorge, die hinter seinen Worten stand.
»Ich habe sowieso gerade Urlaub, Papa, das war gar kein Problem«, beruhigte sie ihn.
»Mama konnte es vorhin, als ich noch einmal bei ihr war, gar nicht glauben, dass du wirklich kommst.«
»Wie geht’s ihr denn?«
»Sie macht sich zu viele Sorgen - wie immer. Morgen wissen wir mehr.« Mit diesem Satz schien der Vater das Thema erst einmal beenden zu wollen. Jedenfalls nahm er Marie den Koffer ab und brachte ihn in ihr Kinderzimmer, das noch fast genauso aussah, wie sie es damals bei ihrem Auszug verlassen hatte.
Beim Anblick der bemalten Tapete und der bunten Kissen auf dem Bett wurde Marie fast etwas wehmütig.
Im Vergleich dazu war ihre jetzige Wohnung grau, unscheinbar und leer. Die Poster an den Wänden erinnerten sie an die Schwärmereien für verschiedene Stars der Vergangenheit und ihre Vorliebe für Kunstfotografie, die sie zu dem Praktikum bei Uhlenhorst veranlasst hatte. Und was sagte ihr heutiges Zuhause über sie aus? Was würden ihre Hinterbliebenen entdecken, wenn sie nach ihrem Tod Maries Räume betraten? Eine unpersönliche Behausung ohne Charme und Esprit, keine verspielten Kleinigkeiten, kaum Bilder, kaum Farben. Eine nüchterne und pragmatische Einrichtung, die allerhöchstens durch die bereits zensierten Bereiche wie Kleider- und Bücherschrank etwas Lebendiges bekam.
»Erinnerst du dich noch daran, wie du hier alle paar Wochen umdekoriert hast?« Der Vater hatte offensichtlich die Nostalgie im Blick seiner Tochter bemerkt. »Immer mussten die aktuellsten Poster oder Fotos hängen. Mamas Stoffkiste hast du mehrmals geplündert.« Das wusste er offensichtlich noch genau, sie hatte das schon lange vergessen. Viel ist von dieser Dekorationswut nicht geblieben, dachte Marie traurig. UNTERSTREICHEN. Und sie nahm sich gleich vor, ihre Wohnung tatsächlich noch zu verändern, sobald sie wieder zurück in München war.
»Lass uns heute Abend mal wieder essen gehen«, meinte Gustav Hartmann gleich darauf. »Schließlich warst du schon so lange nicht mehr da.« Erst jetzt wurde Marie bewusst, wie sehr die Eltern offenbar unter ihren spärlichen Besuchen gelitten haben mussten. Dass ihr Vater seine Tochter in ein Lokal ausführte, wäre früher undenkbar gewesen. Sparsam wie er war, hatte er Essengehen immer für unnötigen Luxus gehalten. Umso mehr
freute sie sich jetzt, dass er ihr Kommen zum Anlass für eine Kursänderung nahm. SPEICHERN. Zu Hause zu sein gefiel ihr zum ersten Mal wieder, weil die Krankheit der Mutter die alten Erwartungen und Schuldgefühle in den Hintergrund treten ließ. Zu offen und freudig hatte der Vater sie empfangen. Wie die Mutter reagieren würde, war im Moment noch unwichtig. Das kam morgen.
Als Marie an diesem Abend in ihrem Jugendbett lag und noch einmal über alles nachdachte, war sie froh, in die Heimat gefahren zu sein. Und hatte sie es ursprünglich aus eher eigennützigen Gründen in Erwägung gezogen, so zeigte sich jetzt, dass für sie wie für die Eltern doch viel mehr dahinterstand. Vielleicht hatte sie sich zu lange davor gedrückt, sich mit den mutmaßlichen Vorstellungen der Mutter wirklich auseinanderzusetzen. Die Rückkehr der verlorenen Tochter fühlte sich jedenfalls lange nicht so schlimm an wie gedacht. Sogar eigentlich ganz gut, fand Marie und drehte sich auf ihrer etwas durchgelegenen Matratze um.
Für einen kurzen Moment kam ihr Lutz Maibach in den Sinn. Ein bisschen enttäuscht war sie ja doch, dass er heute gar nicht angerufen hatte. Aber wenn sie zurück nach München kam, war seine Nachricht sicher auf ihrem AB. Und dann
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