Dann gute Nacht Marie
unbedingt Schwiegersohn und Enkelkinder, dass ihr nur enttäuscht von mir seid.« Nach diesem ersten Geständnis atmete Marie erst einmal tief durch, um sich dann gleich noch einen weiteren Schritt vorzuwagen: »Und im Job hab ich es ja auch nicht gerade weit gebracht.«
Die Mutter nahm ihre Hand und sah sie betroffen an: »Aber Kind, wie kommst du denn darauf? Du hast doch einen interessanten Beruf. Ich habe das immer bewundert, wie man sich mit diesen Computersachen überhaupt auskennen kann.«
»Nach dem Studium hast du mir irgendwann mal begeistert erzählt, dass Katja Klein schon Oberärztin im Krankenhaus ist, obwohl sie nur ein paar Jahre vor mir abgeschlossen hat. Da hab ich mich gefühlt, als hätte ich gar nichts zustande gebracht.« Als sie an dieses Gespräch dachte, wurde Marie bewusst, dass es tatsächlich
einer der Auslöser für ihr schwieriges Verhältnis zur Mutter gewesen war. Diese versicherte ihr jetzt, dass sie mit der damaligen Aussage keinerlei Erwartungen verknüpft hatte.
»Ich war immer stolz auf dich. Und dass man Mann und Kinder nicht erzwingen kann, wissen selbst deine alten Eltern.« Monika Hartmann lächelte leicht. »Wenn ich bedenke, wie oft ich nach einem Vorwand gesucht habe, um dich wenigstens anzurufen. So wichtig waren die Computerprobleme meistens gar nicht. Aber du hättest dich ja gar nicht gemeldet.«
»Und ich hab immer gedacht, ihr ruft nur an, wenn ihr was braucht.«
»Na ja, auf die Frage, wie es dir geht, wolltest du schließlich auch kaum antworten.«
Die Tochter senkte beschämt den Kopf und wunderte sich darüber, wie lange Missverständnisse ungeklärt im Raum stehen konnten, ohne beseitigt zu werden. Definitiv zu lange, fand Marie, freute sich aber dennoch, dass diese Zeit zumindest jetzt ein Ende hatte. Besser spät als nie.
Am nächsten Morgen im Zug zurück nach München hatte Marie keine Probleme mehr, sich auf das mitgebrachte Buch zu konzentrieren. In ihrem Gepäck befanden sich ein paar Kleinigkeiten, die sie in einem für sie untypischen Anfall von Nostalgie bei der Abreise noch eingesteckt hatte. Darunter ein gerahmtes Foto der Eltern, das sie erst jetzt nach dem klärenden Gespräch mit der Mutter aufstellen wollte. Aus ihren Regalen hatte sie einige bunt gemusterte Dosen genommen, Sammlerstücke von früher, die sie nun zur Nachlass-Verschönerung
der Wohnung nutzen würde. Ein im Kunstunterricht selbst bemalter Teller war ihr auch nicht mehr so hässlich vorgekommen und ebenso eingepackt worden wie zwei der unzähligen Kissen auf dem Bett. Auch ein kleines Porzellan-Engelchen, das ihr noch vor einigen Wochen viel zu verspielt gewesen wäre, durfte mitreisen. Nach den letzten Tagen war die Erinnerung an die Kindheit, die damit verbunden war, nicht mehr so unangenehm.
Der Besuch am Vortag war entspannter verlaufen als alle vorherigen. Zum ersten Mal hatte Marie über ihre Angst - die ihr erst vor Kurzem bewusst geworden war - gesprochen, den Vorstellungen der Eltern nicht zu genügen. Und das Verständnis der Mutter hatte so gutgetan, dass sie es im Nachhinein ehrlich bereute, sich nicht früher überwunden zu haben. SPEICHERN. Auf jeden Fall war nun so einiges geklärt, und Marie fühlte sich auf der Heimfahrt deutlich erleichtert und viel freier - um endlich zu sterben oder etwa doch zu leben?
Als sie die Wohnung betrat, ging ihr Blick als Erstes zum Anrufbeantworter, der jedoch nicht den kleinsten Ansatz eines Blinkens von sich gab. Lutz hatte also nicht angerufen. Oder bloß keine Nachricht hinterlassen? Was das bedeutete, darüber musste Marie nicht lange nachdenken. Entweder fand er ihren Plagiatsversuch nach einigem Überlegen so daneben, dass er gar nichts mehr mit ihr und ihrem ominösen Krimi zu tun haben wollte. Oder er hatte seine Vorwürfe - rücksichtsvoll wie er war - nicht auf das Tonband sprechen wollen. Positive Anliegen oder die Bitte um Rückruf hätte sicher auch ein Herr Maibach einfach der Kassette anvertraut. Die
Chancen, irgendwann noch einmal engeren Kontakt zu dem Dozenten zu bekommen, schwanden zusehends, fand Marie und legte Lutz für heute gezwungenermaßen zu den Akten.
18
DOKUMENT 18. Bis zum Dienstagmittag war noch immer keine irgendwie geartete Nachricht von Lutz Maibach eingegangen. Da beschloss Marie, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Vielleicht war ihm nur entfallen, dass er ihr seinen Anruf in Aussicht gestellt hatte - was nicht die beste, aber immerhin eine mögliche Erklärung gewesen wäre.
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