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"Dann iss halt was!": Meine Magersucht – wie ich gekämpft habe – wie ich überlebe (German Edition)

"Dann iss halt was!": Meine Magersucht – wie ich gekämpft habe – wie ich überlebe (German Edition)

Titel: "Dann iss halt was!": Meine Magersucht – wie ich gekämpft habe – wie ich überlebe (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Frommert , Jens Clasen
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verzweifelten Blick, eine Wut im Bauch, befindet sich in einem tranceartigen Zustand, abgetaucht in seine ganz eigene Welt …
    Ein jeder hofft, dass er die verlangte Grammzahl in der vorgeschriebenen Zeit zunimmt. Ansonsten gibt’s Kalorien pur aus der Hausapotheke, per Strohhalm in Schoko-, Vanille-, Pfirsich- oder Zitronen-Geschmack, oder als Alternative die Einweisung in die Geschlossene.
    Wie so vieles war mir auch das egal. Eine andere Sicht der Dinge hätte nur mehr Stress bedeutet. Ich hatte mich in der hinteren Ecke des großen tristen Essensaals gut eingerichtet. Meine Gedanken kreisten immer um die anderen, nie um mich. »Meine Güte«, dachte ich, »so viele kranke junge Menschen auf einem Haufen, denen muss doch geholfen werden!« Ich war in meinem Element. Und so reichte ich selbstlos zunächst einmal diese für Magersüchtige hochexplosive, flüssige Kalorienbombe namens »Frubienzym«, die auch ich mir in Ermangelung von Einsicht am Hausapothekenschalter abzuholen hatte (»Vanille und Pfirsich, bitte!«), weiter an die, die es doch so viel nötiger haben als ich. Ich investierte all meine Kraft in andere. Ich hatte von Natur aus genug davon. Ich brauchte mir keine Kraft anzutrinken. Ich wurde zum, wie es meine Therapeutin später ausdrückte, Co-Therapeuten. Ich half, wo ich konnte. Und beschäftigte mich möglichst wenig mit mir selbst.
    Irgendjemand hatte einmal bestimmt, was normal zu sein hat in dieser essgestörten Welt, und entsprechende Gleichungen aufgestellt. Zum Beispiel die: 2 Scheiben Brot = 1 Brötchen oder: 1 Brezel = 1 Scheibe Brot. Beim Samstags-Eintopf gilt: 1 Portion = 2 Teller plus 2 Scheiben Brot. Das konnte ich ja alles gerade noch nachvollziehen, wenn auch ungern. Die geforderten Mengen waren für mich dagegen nicht nachvollziehbar.
    Hier ist eine Auswahl der Roseneck’schen Frühstücksgebote:
Maximal zwei Sorten Marmelade sind erlaubt.
Maximal zwei kleine und eine große Glasschale, einmal Saft, einmal Milch sowie zwei Teller.
Zwei Brötchen mit Butter und – flächendeckend – sonstigem Belag sind der Grundbedarf, Müsli etc. gilt nicht als Ersatz für Grundbedarf.
Auf ein Brötchen gehören ein Päckchen (10 g) Butter oder 10 g Margarine.
Auf eine Scheibe Brot kommt ½ Päckchen Butter (5 g) oder 5 g Margarine.
Ausnahmen müssen mit dem Bezugstherapeuten abgesprochen werden.
    Wie war das? Zehn Gramm Marmelade auf zwei Schalen, nein … Zweimal Milch entspricht einem Brot … ach … Ich verinnerlichte diese Essensgesetze nie, weil ich sie nie anwendete. Schon morgens um 6.55 Uhr war meine Essenswelt in völliger Unordnung. Und das war erst der Anfang …
    Um 11.55 Uhr ging das Essensdilemma weiter: Suppe und Salat mit Dressing plus Hauptmahlzeit sind Pflicht. Wasser ja, aber bitte nur ein Glas. Nachschlag bekommt man immer nur »vom selben Gericht und nur, wenn die komplette Hauptmahlzeit einschließlich Soße aufgegessen worden ist«. Das Abendessen, serviert um 18 Uhr, war der krönende Abschluss: Drei Scheiben Brot sollte man vertilgen, inklusive Butter und Belag (Wurst, Käse, Marmelade), dazu Salat und/oder Gemüse. Diese Portionen sind sicherlich auch für so einige Menschen ohne Essstörung eine Herausforderung.
    Selbstredend habe ich zu keiner Zeit die verordnete Menge auch nur annähernd zu mir genommen. Ich dachte nicht mal daran. Die Produkte wurden einfach ausgetauscht. Schalen, Schälchen und Teller hatte ich längst aufs Zimmer geschleppt, um sie dann im Schutz der eigenen vier Einzelzimmerwände mit den Lebensmitteln zu füllen, die mir täglicher Grundbedarf waren. Alles wurde im Zimmer vorsichtig im Rucksack verstaut und dann mit immer geübteren Fingern und Manövern auf dem Tisch im Essenssaal platziert. Gerade so, als käme es frisch vom Buffet. Das Einzige, was dem an der Theke angebotenen nahrhaft-gehaltvollen Quark entsprach, war das Käseweiß. Auch den Begriff »Zuckeraustauschstoff« nahm ich ernst und überhaupt sehr wörtlich.
    An die ersten Gespräche, die ich en passant absolvierte, kann ich mich gar nicht mehr erinnern. Meine Gedanken waren woanders, die Planungsmaschinerie ratterte: Wird man auch außerhalb des Essraums überwacht, gibt es Zimmerkontrollen? Wann bekomme ich hier Ausgang, um meine Einkaufsmöglichkeiten zu nutzen, meine Depots aufzufrischen? Zu den Läden im Ort gab es ganze Völkerwanderungen, die halbe Klinik traf sich hier wieder. Ebenso wie für meine Mitpatientinnen war es für mich extrem wichtig, geradezu

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