"Dann iss halt was!": Meine Magersucht – wie ich gekämpft habe – wie ich überlebe (German Edition)
Meine Hilfswilligkeit ging so weit, dass ich, mittlerweile von zwei auf vier Räder umgestiegen, sie dorthin fuhr, zusah, wie sie dort chic, freudestrahlend und ohne mich einmarschierte – und sie spät in der Nacht von dort wieder abholte. Das war keine Ausnahme.
Sie hat mir nie ins Gesicht gesagt, dass sie mich auf diesen Festen und Treffen nicht dabeihaben wollte oder dass die Leute mich explizit nicht mit eingeladen hätten. Sie sagte höchstens mal: »Ach, da sind nur Leute, die du gar nicht kennst.« Aber natürlich dachte ich mir schon, dass es ihr vielleicht peinlich wäre, dort mit ihrem dicken Freund aufzukreuzen. Ich hatte jedenfalls das Gefühl, dass sie sich nicht zu mir bekennen wollte. Gefragt habe ich sie nie danach.
Warum auch? Ich hatte viel zu viel Angst davor, dass mir die Antwort nicht gefiel. Ich nahm lieber die Situation in Kauf, wie sie war.
Ich konnte Gabi letztlich sogar verstehen. Ich sah mich doch selbst so – und hätte mir wahrscheinlich in 99 Prozent der Fälle ohnehin eine Ausrede gesucht, nicht mitzugehen, weil ich mir sonst dort die ganze Zeit Gedanken macht hätte, was die Leute wohl über mich tuschelten, diesen massigen Typen von der Gabi. Ich wollte uns beide dem Ganzen nicht aussetzen. Dem Klassentratsch am Tag danach. Es war vollkommen in Ordnung, dass sie sich in der Welt herumtrieb und ich irgendwo auf sie wartete – Hauptsache, ich war derjenige, der auf sie warten durfte, ich und kein anderer! Der Status als ihr Freund war für mich das Entscheidende, die Ausgestaltung dieser Rolle war mir letztlich egal.
Also hatten wir eine Art stumme Vereinbarung, die niemanden so richtig störte – die aber auch keinen weiterbrachte. Wir führten eine Beziehung, die für beide ihren Zweck erfüllte. Ich erinnere die Zeit mit Gabi jedenfalls nur dann als restlos komplikationsfrei, wenn wir gerade nicht so viel miteinander zu tun hatten. Dann war da so etwas wie Sehnsucht, Vermissen, Leidenschaft, Träume.
Wann genau diese Gewohnheit begann zu verletzen, vermag ich nicht mehr zu sagen. Nachdem das mit dem Zusammenglucken einerseits und getrennt Feiern andererseits eine Weile so gegangen war, überschritten wir beide auf unsere Weise jeweils eine Grenze, was mich in seiner Selbstverständlichkeit mittlerweile erschreckt. Aus heutiger Sicht würde ich sagen, dass meine Übergriffigkeit die schlimmere war, damals war es aus meiner Sicht eindeutig Gabis.
Ich weiß nicht, was mich dazu trieb, ob es eine schleichende Ahnung war, ob schwelende Eifersucht, ihr ständiges Schweigen oder schlicht die Verlockung der Möglichkeit. Vielleicht tat ich es auch einfach so.
Aber als Gabi eines Abends nicht in meiner Nähe war, griff ich zu. Ich wusste genau, wo ihr Tagebuch lag. Ich begann, darin zu lesen. Natürlich kannte ich dieses kleine, samtartig eingeschlagene Notizbüchlein, das da im Bauch des hellbraunen Schreibtischs schlummerte. Natürlich wusste ich, dass sie darin vor allem Zustandsbeschreibungen festhielt. Tagesablaufprotokolle. Sachen wie: »War mit XY im Schwimmbad«, oder: »Kaffee mit YZ getrunken«. Gabi neigte nicht zum Philosophieren, Schwadronieren, Formulieren. Aber auch ein paar intimere Dinge waren darin pelikanfüllerblau auf weiß festgehalten. Nun begann ich damit, das Buch systematisch durchzublättern und gezielt nach Stellen zu suchen, die mich oder uns betrafen. Und natürlich fand ich sie. Vieles, was ich zu dieser Zeit von Gabi wusste, habe ich mir in dürrem Lampenschein erlesen. Heimlich, wenn sie mit dem Hund mal eben unten war. Oder in der Nacht, wenn sie schlief. Je mehr mein Hunger auf ihre Gedanken wuchs, je mutiger wurde ich dabei, ihn zu stillen. Und erfuhr so, dass auf einer Party ein stadtbekannter Sportler nicht nur seinen linken Wurfarm um sie legte – auf dieser Party, zu der ich sie gefahren und in sicherer Entfernung samt Rad aus dem Auto verabschiedet habe. Keine Ahnung, wie weit das mit ihm ging, aber es war ihr zumindest einen Eintrag in ihrem Büchlein wert.
Natürlich fragte ich mich, wie viele solcher Begegnungen sie gehabt hatte, von denen sie nichts schrieb. Natürlich tat mir das weh. Aber das Allernatürlichste fiel mir nicht ein: mich betrogen zu fühlen und sie, wenn schon nicht zu verlassen, zumindest zur Rede zu stellen. Ich verarbeitete es alleine. Womöglich hätte sie noch eine Konsequenz gezogen. Nein, nein, lieber mal nicht auf dumme Gedanken bringen … Natürlich schob ich auch dies auf meine Figur: »Kein Wunder, dass
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