"Dann iss halt was!": Meine Magersucht – wie ich gekämpft habe – wie ich überlebe (German Edition)
sie von Athleten fasziniert ist, bei so einem Fettsack als Freund.«
Es mag ein Indiz dafür sein, dass ich sie nie wirklich geliebt habe. Oder nie wirklich wusste, was Liebe ist und was mich verletzt. Jedenfalls veränderte sich dadurch für mich nichts. Wir waren weiter zusammen, allein zu zweit, sie ging weiter ohne mich auf Partys – und ich las weiter in ihrem Tagebuch. Ich hinterging sie in einer Weise routinemäßig, die mir heute Angst einjagt. Es gab auch noch weitere Andeutungen, aber nichts so Eindeutiges. Es wäre mir allerdings letztlich egal gewesen. Am Ende wäre alles in den Schatten gestellt worden von dem einen, dem einzigen Eintrag, der mir so richtig in die Magengrube fuhr, der mich taumeln ließ, mir die Röte ins Gesicht trieb und Schauer über den Rücken jagte. Es ist faszinierend, wie so wenige Worte so viel in einem Menschen auslösen können. Worum es ging? Um eine Nichtigkeit, werden viele sagen. Eines Tages fand ich bei meiner täglichen Tagebuch-Lektüre in einem kurzen Text, in dem Gabi über dieses und jenes schrieb, eher beiläufig eingestreut den Satz, der mich nachhaltig erschütterte:
»Er ist ja doch ganz schön dick …«
Da war es raus.
Ich hatte es immer gefürchtet, geahnt oder gar gewusst, aber nun hatte ich es königsblau auf weiß von Gabi höchstpersönlich.
Doch. Ganz. Schön. Dick.
Die Worte sprangen in meinem Kopf herum wie ein Multiball beim Flippern, sie dröhnten immer lauter, wuchsen zu Leuchtreklamen für das Dicke in Gabis Leben – oder besser: dagegen. Sie dachte es also auch.
Ich weiß, es ist eine arge Verzerrung: Die paar Wörtchen als Beleg herzunehmen dafür, dass sie so über mich dachte – und all die Jahre, die sie mit mir zusammen war, einfach zu ignorieren. Aber so ist es doch meistens: Wer annimmt, dass andere schlecht von ihm denken, wer immerzu nach Beweisen für dieses Denken sucht, ist dann zugleich vor Glück und Schreck wie vom Donner gerührt, wenn er auch nur den Ansatz einer Bestätigung dafür findet. Für mich standen ihre Worte auf derselben weltweit sichtbaren Marmortafel wie der heimlich aufgezeichnete Ausspruch von meinem Kumpel Christoph in unserem »Tonstudio«.
Doch auch dieser Fund brachte mich nicht dazu, die Beziehung zu Gabi zu überdenken oder gar das große Klärungsgespräch mit ihr zu suchen – im Gegenteil. Ich war nur noch froher, dass sie bei mir blieb und hatte noch mehr Angst, sie zu verlieren und wieder allein dazustehen. Meine Strategie: Bloß keine schlafenden Hunde wecken! Vor allem keine dicken Hunde. Zum Glück hatte Gabi bald die Idee, mich tatsächlich zu verlassen – aber nur räumlich.
Denn in etwa zu dieser Zeit machte Gabi ihre Abiturprüfungen und spielte mit dem Gedanken, für ein halbes Jahr als Au-pair nach Australien zu gehen. Wir sprachen oft darüber. Sie war einerseits sehr heiß darauf, andererseits sehr unsicher, ob sie es tun sollte. Es entstand die irrwitzige Situation, dass sie zumindest vordergründig meinetwegen in Deutschland bleiben wollte – und ich sie drängte, doch bitte zu gehen. Ich erinnere mich an den langen Waldweg bei Schwetzingen, den wir gelaufen sind. Wenige Tage, bevor es losging. Sie bekam Bedenken. Ich nicht. »Du musst fahren! Nie mehr wirst du diese Möglichkeit haben. Und wenn wir einmal nicht mehr zusammen sind, wirst du sagen: ›Wegen dieses Typen habe ich diese einzigartige Chance nicht genutzt.‹« Und so weiter. Das klang doch ganz vernünftig. Selbstlos. Großherzig. Gescheit. Das war keine geheuchelte Parteinahme, dahinter stand nicht die Hoffnung, sie würde vielleicht gerade dann bei mir bleiben, wenn sie sah, wie sehr ich sie in allem unterstützte – es entsprach schlicht genau meinem Naturell. Es war eine Selbstaufopferung bis hin zur Behaglichkeit. Wie bitte? Ja, so ist es tatsächlich. Die Vorstellung war für mich geradezu perfekt: Der Status quo – Christian hat eine Freundin – bliebe erhalten. Aber das tägliche bange Warten darauf, dass sie mir womöglich ins Gesicht sagte, dass ich zu dick sei und sich von mir trennte, wäre vom Tisch. Ebenso dass wir Probleme wälzten, vor uns herschoben, wir uns einander unsere Liebe verunsicherten.
Ich wollte sie loswerden, um sie zu vermissen. Den Verlust zu betrauern. Und ihre kleinen Bösartigkeiten habe ich gleich mit ans andere Ende der Welt geschickt. Ohne sie war ich mir ihrer am sichersten. Eine sichere Entfernung, um mich süchtig zu sehnen. Es würde eine andere Art von Qual werden, aber
Weitere Kostenlose Bücher