"Dann iss halt was!": Meine Magersucht – wie ich gekämpft habe – wie ich überlebe (German Edition)
eine sinnvolle, wie mir schien. Eine, die jeder verstehen konnte. Eine nach außen hin sicht- und vorzeigbare. »Ooch, der Arme, seine Liebste ist so weit weg!« Nie habe ich mir mehr gewünscht, nichts von ihr zu hören – um ebendiesen Status quo zu erhalten. Verrückt? Für mich vollkommen normal. Ich würde sogar sagen, es ging mir mit Gabi am besten, wenn ich ohne sie war. Wenn sie nicht da war, wenn ich sie nur vermissen konnte – aber trotzdem das Halsband mit ihrem Namen um den Hals trug.
Langer Rede kurze Geschichte: Im Sommer 1989, direkt nach dem Abi, ging Gabi nach Australien. Ich blieb zu Hause und war der glücklichste Alleingelassene der Nordhalbkugel. Ab und an ging es mir tatsächlich schlecht. Immer dann, wenn Luftpost aus Australien kam. Dann flogen die Probleme nur so aus den dürren Zeilen. Und diesmal konnte ich sie nicht zerreden, sondern mir nur ausreden, diese Zweifel, ob diese Beziehung das tatsächlich übersteht. Gabi wurde selbstständiger und selbstständiger. Sie tauchte und fuhr durchs Land. Sie pflückte Tomaten, feierte Partys, segelte auf Katamaranen der Sonne entgegen. Kletterte durch von Aborigines bemalte Höhlen. Und in meinem Hirn wurde dieses Bild immer klarer gezeichnet: Sie ist weg, verloren. Wie sollte sie nach all dem mit einem wie mir noch etwas zu tun haben wollen?
Ja, nun war ich der, der so etwas wie Tagebuch schrieb. Lückenlos klärte ich Gabi in langen Briefen darüber auf, was ich machte, dachte. Ich drängte mich ihr schriftlich auf. Jeden Tag, seit ihrem Einstieg in diesen Jumbo der Singapore Airlines. Und dann beschloss ich zu kämpfen, entwickelte den größten Geheimplan der westlichen Welt. Kern des Ganzen war ein folgenschwerer Entschluss, letztlich auch nur ein paar Wörter, die aus ein paar anderen Wörtern entsprangen. Hätte ich damals mein eigenes Tagebuch geführt, wäre dort zu lesen gewesen:
Wenn sie wiederkommt, bin ich dünn.
Und das Perfide daran: Ich wollte es nicht für mich, sondern für sie. Damit sie sich meiner nicht schämen musste. Und wie immer, wenn ich etwas für andere tat, tat ich es mit völliger Hingabe und absoluter Konzentration auf ein perfektes Ergebnis. Ich musste dafür keiner Spezialdiät folgen, keine Ernährungspläne einhalten. Ich aß einfach keinen Süßkram und kein Knabberzeug mehr, verzichtete auf Essen nach 20 Uhr, Limo und Cola, lernte Kohlsuppe zu lieben, Fisch zu filetieren. Und spielte regelmäßig Fußball. Ich durfte in der zweiten Mannschaft des VfR Bürstadt mittrainieren. Mitlaufen eben. Das genügte mir schon. Binnen eines Jahres – Gabi verlängerte ihren Aufenthalt um weitere sechs Monate – verlor ich fast 50 Kilo.
Klingt toll? Vordergründig ja. Aber heute muss ich sagen: Ich habe damals die Büchse der Pandora geöffnet. Ich hatte die erste Lektion der Magersucht gelernt: Wer will, kann sein Gewicht kontrollieren. Er kann extrem abnehmen, wenn er sich nur am Riemen reißt. Essen ist ein Feind, und er ist durch Willenskraft zu besiegen. Ich wusste es damals nicht, aber ich hatte meine Füße in einen reißenden Strudel getaucht, der mich in die Tiefe zog.
Die nächste Lektion folgte nicht viel später.
Neues kam, Altes blieb.
Das Ende von Gabis Australienaufenthalt war nicht zugleich das Ende unserer gemeinsamen Geschichte. »Down Under« war Historie – unsere Beziehung nicht. Aber die Gegensätze blieben – sie wurden jetzt nur auf eine andere Weise sichtbar.
Als Gabi zurückkam, war ich dünner – und sie ein echtes Pummelchen. Fast-Food-Frust-Fraß auf den Rippen, die allerdings schon bald wieder von den überschüssigen Pfunden befreit waren. Die Tage vergingen. Die Leiden nicht. Wir zogen zusammen. Erste Station: Raunheim. Erdgeschoss, drei Zimmer mit Bad und einer Riesenküche. Es begann so etwas wie ein Alltag. Ein schwieriger. Wir beide hatten völlig verschiedene Ansichten vom Zusammenleben. Bisweilen prallten da zwei Welten frontal und ungebremst aufeinander. Was auch auf das Mobiliar zutraf. Ein kruder Mix zweier Geschmäcker, wie sie nicht unterschiedlicher sein konnten. Die Küche war das Prunkstück. Neu und gut.
Im Widerstreit unser beider Richtungen suchte ich meist einen Mittelweg. Nur keine Konfrontation. Ich gab mich einsichtig und offen für Neues, und wenn Gabi aus dem Haus war, lebte ich meine Gewohnheiten. Gabi und ich waren oft getrennt von Bett und Tisch. Sie ging mittlerweile oft in die Luft. Sie hatte eine Anstellung bei einem bekannten Charterflieger
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