"Dann iss halt was!": Meine Magersucht – wie ich gekämpft habe – wie ich überlebe (German Edition)
geringer Distanz an ihre Arbeit. Der Grat zwischen Fan und Chronist ist bisweilen schmaler als die Laufräder, auf denen sich die Tour-Helden mehr als 3000 Kilometer kreuz und quer und hoch und runter durch Frankreich und einige Nachbarländer quälen.
Jan Ullrich war ihr Darling. Er war Everybody’s Darling. Schließlich lieferte er ihnen in schöner Regelmäßigkeit ihr täglich Brot: Emotionen, Dramen, Erfolge, Niederlagen und Skandälchen – er war der perfekte Held, gerade weil er stets den labilen Anti-Helden gab. Ganze Generationen von Radsportschreibern verzweifelten an dem Genie, das so schlampig mit seinen vielen Talenten umging, der viele Hoffnungen hatte fahren lassen müssen, weil er sitzen blieb, als er besser aufgestanden wäre, zu viel aß oder zu wenig oder einfach nur Pech hatte. Die Geschichten wiederholten sich, die Hoffnung auch. Der sehnliche Wunsch, dass er noch dieses eine Mal in Gelb nach Paris radeln würde, der verband Journalisten mit Sportlern, mit Entourage, mit Fans und Sponsoren – Jahr für Jahr. Jan Ullrich – der Name war wie ein Versprechen.
Auf ihn zuvorderst warteten sie also zwischen Brötchen, Marmelade, Käse, Champagner, Kaffee und Tee. »Der Jan« würde das Team als Kapitän anführen, als einer, der von sich und anderen bezichtigt wurde, in diesem Jahr in der »Form seines Lebens« zu sein. Anzutreten, um zum zweiten Mal diese »Große Schleife« durch Frankreich zu gewinnen. Vor nunmehr neun Jahren war Jan Ullrich das schon einmal gelungen. Ein historischer Sieg, der eine Ikone aus ihm werden ließ. Der Typ von Nebenan, dem die Herzen zuflogen, weil er bodenständig war, unprätentiös, authentisch und einfach ein lieber Kerl, der Jan.
Egal, wie die stets den Radsport umwuchernden Dopinggerüchte, Manipulationsvorwürfe, Betrugswahr- und -halbwahrheiten oder aalglatten Lügen auch zu bewerten sind – die Leistung, die diese Sportler erbringen, ist außergewöhnlich. Auch Mittelchen und medizinische Umwege machen aus einem mäßig talentierten Radsportler keinen Tour-Sieger. Vielleicht ist es auch das, was sie mit einem gewissen Selbstverständnis und einem reinen Gewissen zu Beschleunigern greifen lässt, zu Aufputschern, Längerdurchhaltern oder Schnellerwiederregenerierern. Und wie immer setzte sich außen die Überzeugung durch: Die anderen schon, aber er doch nicht. Nicht der Jan. Man glaubt an seinen Star, weil man an ihn glauben will. Überhöhen, hochhalten, fallen lassen, drauftreten – so funktioniert People’s Business nicht nur im Boulevard. Das gezeichnete Bild dort ist nur professioneller, weil tägliches Kiosk-Programm.
Ullrich, auf immer Rotschopf aus Rostock, so wie Becker auf ewig der 17-jährige Leimener ist oder Schumacher der frühere Kartfahrer aus Kerpen, hat viel gewonnen seit diesem Tag im Juli 1997. Die Tour de France, die mit nichts in der Branche auch nur annähernd zu vergleichenden Olympischen Weltmeisterschafts-Spiele, dieses Allerheiligste des Radsports, gewann er nicht mehr. Obwohl ihm damals nicht wenige noch weitere sieben, acht, neun Siege zugetraut hatten. Mindestens. »Kaiser« nannten sie ihn ehrfürchtig. Doch es fand sich immer einer, der aus welchen Gründen auch immer stärker war, und es war immer derselbe. Hase und Igel fahren Rad. Lance war immer da, wo Jan hinwollte. Schon damals rankten sich viele Spekulationen um diese übermenschlichen Leistungen, die Lance Armstrong alljährlich wie auf Knopfdruck abzurufen vermochte. Derweil Jan Ullrich immer irgendwie, irgendwo, irgendwann patzte. Das machte Armstrong zur Maschine und Jan Ullrich zum tragischen Helden. In diesem Jahr nicht. Der im Oktober 2012 aus den Tour-Annalen getilgte Seriensieger und Seriendoper Lance Armstrong war zurückgetreten.
Nächster Halt, »Le Kempferhof«, Klubgebäude, Plobsheim, Elsass also. Warten auf den 9.30-Uhr-Bus in mondäner Kulisse. Keiner ahnte auch nur annähernd, was sich nur wenige Meter von dem Menschenauflauf entfernt in diesem weniger gediegenen Verhau seit Minuten abspielte. Ein Schuppen, nicht größer als zweimal zwei Meter, dunkel und schummrig, Gerümpel in den Ecken, Gartenpflegeutensilien, ein Schrank, ein Stuhl, ein Tisch, ein Fax. Vier Männer davor. Auch sie warteten. Eine scheinbare Ewigkeit lang. Und dann brach das Fax sein Schweigen, es sprach mit uns, endlich. Es spuckte große Töne, die zunächst nur einer verstand: Luuc Eisenga, polyglotter Pressesprecher des T-Mobile-Team. Zunächst murmelte er nur das, was
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