"Dann iss halt was!": Meine Magersucht – wie ich gekämpft habe – wie ich überlebe (German Edition)
schlecht, und das auch noch in Etappen. Es ist wie Folter. Und am Morgen, dann, wenn dieser Druck nachlässt, ich den lieben Gott einen guten Mann sein lassen und einmal ruhen könnte, treibt mich irgendeine Kraft, ein Weckruf aus dem Bett. »Los aufstehen, schau mal auf die Uhr, Faulpelz, Müßiggänger, Versager. Los, antreten.« Und schon stemme ich Gewichtchen, imitiere Liegestütze, dehne Muskeln, die es nicht gibt. Dann geht es aufs Rad. Das Pedalspiel ist keine Farce. Es ist echter Sport. Ebenso wie der Lauf danach. Kein Joggen, eher ein Walken, aber immer den längsten Weg. Warum zum Bäcker um die Ecke laufen, wenn ich um zwanzig Ecken zum Bäcker laufen kann.
Ich weiß noch, dass ich an diesem Neujahrsmorgen, an dem ich selbstverständlich um spätestens 5.30 Uhr auf dem Rad saß, gleich wieder einen hehren Vorsatz fasste. … Da waren doch noch die restlichen Sushiröllchen … Aber nein, Frischfisch, ein Tag alt, weg damit. Annas ätzende Lache schwappte der Angstwoge hinterher.
Du Miststück, dachte ich und starrte in die überfüllte Leere meines Zuhauses.
Ich bekam plötzlich das Gefühl, dass mein Hunger viel größer als der nach etwas zu essen war – und immer gewesen ist. Dass mein Hungern nur Ausdruck einer Sehnsucht war, genau wie die Gier, die mich jedes Mal überkam, wenn ich diesen ganzen Krempel kaufte.
Mir kam ein Gedanke: Das waren Geschenke. Geschenke an mich selbst. Kleine Aufmerksamkeiten, wie man so schön sagt.
Geschenke, Aufmerksamkeit, lange Zeit war das genau meine Währung. Erst investierte ich jahrelang in andere – und dann eines Tages kam die Aufmerksamkeit zu mir zurück.
Jetzt überschlugen sich die Gedanken in meinem Kopf. Ich rutschte neben meinem Stuhl auf den Fußboden.
Die Aufmerksamkeit.
Wie eine Welle schwappte sie damals über mich und riss mich mit sich fort. Wir sprechen hier nicht nur von ein paar Anrufen. Wir sprechen von internationaler Aufmerksamkeit. Von einer Sport-Welt-Öffentlichkeit.
Ich saß allein und ausgemergelt in meiner Wohnung und dachte an die Zeit zurück, als ich voll im Saft stand und nie allein war. Als immer mindestens ein Reporter bei mir war. Alle wollten etwas von mir wissen. Und ich bediente ihren Wissenshunger. Ich gleite ab in die Vergangenheit. In die Zeit der absoluten Aufmerksamkeit. Ziel meiner Zeitreise: Die Tour de France 2006. Der Anfang vom Ende.
Erfolgshunger
Die Welt des Leistungssports und
wie krank sie machen kann
Die Zukunft des deutschen Profi-Radsports wurde zwischen Platzwarthäuschentür und Anger entschieden. Die Ära eines der wenigen Superstars, die der Sport hierzulande zu bieten hatte, bis dahin noch auf Augenhöhe mit Boris Becker, Michael Schumacher oder Dirk Nowitzki, beendeten zwei Worte, ausgesprochen zwischen Rasenmäher, abgenutztem Gartengerät und alten Lappen: »Wir suspendieren!«
Im gediegenen Golfklub draußen vor den Toren der 3900-Seelen-Gemeinde Plobsheim wurde alles gerichtet. Wie immer, wenn die Deutsche Telekom AG oder eine ihrer Töchter irgendwo in der Welt und in aller Öffentlichkeit Arbeit verrichtete. Agenturen werkelten, Hostessen wuselten, Konzernmitarbeiter dirigierten, Besucher staunten, Journalisten warteten. An diesem Morgen auf einen Bus, der zunächst nur Verspätung zu haben schien. Seine Haltestelle hat er nie erreicht. Für ihn war das große Einfahrtstor Endstation. Mit laufendem Motor wartete das magentafarben bemalte Gefährt, hinter dessen getönten Scheiben ein Rad-Team saß, das es eigentlich zu präsentieren galt, hier auf dem weitläufigen Grün des Golfplatzes im Elsass. Das Zeichen für die Vorfahrt sollte nie kommen.
Es gab stahlblauen Himmel, Sonne satt, reichlich Informationsmaterial, Kanapees auf schicken Sofas und Getränke nach Wahl. T-Mobile International hatte eingeladen zum Grand Déjeuner vor dem Grand Depart, der großen Abfahrt der Tour de France 2006 in Straßburg. Fahnen wehten, Banner standen, Flyer lagen auf Tischen und Theken zwischen den alten Backsteingemäuern mit ihrer modernen Gastronomiemöblierung. Der »Kempferhof« war eingerichtet auf seine internationalen Gäste: ausgestattet mit Kamera, Fotoapparat, Mikrofon, Block, Stift und viel Optimismus. In diesem Jahr sollte es doch klappen. Also drückten auch die fest die Daumen, die laut Stellenbeschreibung eher neutral sein sollten. Radsportreporter unterscheidet dabei nichts von den Berichterstattern anderer Sportbranchen. Alle gehen sie mit großer Leidenschaft und mitunter zu
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