"Dann iss halt was!": Meine Magersucht – wie ich gekämpft habe – wie ich überlebe (German Edition)
jedem Tag hatte ich mehr das Gefühl, die Kontrolle über mein Leben zu verlieren. Ich erlebte die Phase des Loslösens nicht im beflügelnden, befreienden Sinn, sondern eher als die abgleitende Hand eines Kletterers, der sich langsam, aber unvermeidlich von einem Vorsprung in einer überhängenden Felswand löst:
Ich hatte den bevorstehenden Absturz klar vor Augen.
In meiner Angst und Hilflosigkeit suchte ich – aus heutiger Sicht – nach etwas, das allein ich, nur ich in der Hand hatte. Etwas, an dem ich mir beweisen konnte, dass ich die Dinge im Griff habe, dass ich alles nach meinem Belieben lenken, steuern, ändern kann.
Andere Leute machen in so einer Situation eine Berufsberatung. Oder lernen Fallschirmspringen. Ich fand etwas anderes. Essen.
Das ist das einzige Thema, mit dem jeder jeden Tag zwangsläufig immer konfrontiert ist. Ohne Essen kann keiner leben, diese Ressource ist meist frei verfügbar, ihre Zufuhr vom Nutzer frei steuerbar – und damit auch ihr Entzug.
Das Tolle daran: Die Auswirkungen der Zufuhr und des Entzugs sind mehr oder weniger unmittelbar zu erkennen. In Abwandlung eines T-Shirt-Spruchs: Essen formt diesen wunderschönen Körper .
Der Körper will es. Und er reagiert, wenn er es nicht bekommt. Er bekam es nicht mehr.
Schließlich wollte ich fortan wenigstens dünn bleiben und nicht ins Gerede kommen, weil ich dick bin. Hatte ich mein Gewicht unter Kontrolle, hatte ich meine Außenwirkung unter Kontrolle, hatte ich mein Leben unter Kontrolle. Die Glücksformel wurde zur Überlebensformel. Ich konnte mich an etwas abarbeiten. Ich konnte wieder entscheiden. Ich arbeitete an mir. Und einen Plan aus: Sport auf dem Rad, Sport auf der Straße, Sport im Schwimmbecken, und ich machte mir einen Sport daraus, nichts zu essen. Oder zunächst einmal: so wenig wie möglich.
Südafrika war dafür der ideale Sportplatz, als Einstieg das ideale Feld: Hitze, jede Menge Platz zum Laufen und Radfahren, viel Wasser, leckeres Obst …
Also trieb ich logischerweise ab sofort Sport bis zum Umfallen und belohnte meinen ausgepowerten Körper dann mit konsequentem Kalorienentzug: Gemüse, Obst, Joghurt. Manchmal auch umgekehrt. Viel mehr stand fortan nicht mehr auf dem Speiseplan.
Ich bin nicht stolz darauf, aber ich habe in diesen Monaten den Frommert-Triathlon erfunden und perfektioniert: Radfahren, Laufen, Hungern. Wenn ich nach einer dreistündigen Überlandfahrt durch hügeliges Gelände rund um Stellenbosch zurückkam, gönnte ich mir kaum einen Schluck Wasser, wechselte oft nicht einmal die Kleidung, sondern nur die Schuhe – und ging gleich noch 90 Minuten laufen.
Es gab keine Schonung, keine Ruhephasen, nichts. Der Nachtschlaf war eine notwendige, lästige Unterbrechung.
Es gab auch immer etwas zu essen – aber das hatte fast nie Kalorien. Mango, Papaya, Ananas. Wenn andere Fleisch auf dem Braai brutzelten, legte ich Gemüsespieße dazu. Wenn wir in den Weingütern der Region waren, bestellte ich mir den guten Roten oder kühlen Weißen, flaschenweise, paketweise: zu versenden an Christian Frommert …, Germany.
Mein Freund Volki und Familie gönnten sich Leckereien, seine Frau Alice backte Kuchen und Brot, immer frisch, alles da. Nichts für mich. Ich isolierte mich mehr und mehr in der Welt meiner Gastgeber. Ich schlenderte stundenlag durch Pick ’n’ Pay auf der Suche nach den Nahrungsmitteln, die diesen Namen nicht verdienten. Immer auf der Jagd nach weniger. Weniger Fett, weniger Kalorien, weniger Gewicht.
Jan Frodeno flog ein, um sein Trainingslager in Stellenbosch aufzuschlagen. Wenige Monate zuvor war er Olympiasieger im Triathlon geworden. Wir hatten uns in Peking kennengelernt. Er sah mich und erklärte mir, wie das ist mit dem Zusammenspiel von Essen und Sport. Unwissentlich gab er mir weitere Tipps dazu, noch weiter abzunehmen, indem er mir sagte, wie ich es auf gar keinen Fall machen sollte. Oder mir erklärte, was andere so machen, um rechtzeitig vor Wettkämpfen ihr Idealgewicht zu erreichen. Er warnte mich eindringlich. Wir saßen beim Inder, und er haute richtig rein. Schließlich hatte er den ganzen Tag trainiert. Olympiasieger wird man durch Training, Training, Training, Disziplin, aber auch durch Genuss und die richtige Ernährung zur richtigen Zeit. Ich fand für mich fortan immer Zeit zum Trainieren. Zum Essen nie. Ich begann, erste Ausreden zu finden. »Nach dem Sport kann ich nichts essen«; »Vor dem Sport übrigens auch nicht«; »Ich muss mir irgendeinen
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