"Dann iss halt was!": Meine Magersucht – wie ich gekämpft habe – wie ich überlebe (German Edition)
abzuknapsen war. Ich schuf Rahmenprogramme, um mich zwischen den Mahlzeiten abzulenken, sie so weit wie möglich auseinanderziehen zu können. Dann begann ich mit der rituellen Zubereitung. Die Portionen wurden kleiner, die Soßen schärfer, die Haut dünner und mir immer kälter. Keine Frage: Es ging mir immer besser.
Zum Frühstück gab’s zunächst erst einmal eine satte Portion Sport. Rund zwei, drei Stunden lang fütterte ich meinen Körper mit Endorphinen. Die Aufnahme handfester Nahrung zögerte ich bis gegen 14 Uhr hinaus: Obst mit Joghurt. Jan Frodeno hatte mir empfohlen, wenigstens ab und an mal Trockenobst in die Trikottasche zu packen. »Das tut dir gut.« Ich hatte verstanden. Der dringende Rat des Triathlon-Olympiasiegers 2008 hieß für mich nichts anderes als: striktes Trockenobstverbot!
Und so entwickelte ich ein Leben voller Widersprüche. Ich entfernte mich immer mehr vom Leben und damit von meinen Mitmenschen. Von meinen Freunden. Ich wurde mehr und mehr zum Kotzbrocken, mit mir war nun wahrlich nicht mehr gut Kirschen essen, zumal auch sie viel zu viel Zucker … lassen wir das.
Doch je weniger Gefühl ich in Menschen investierte, je mehr Freunde ich verlor, je schneller sie sich zurückzogen, um sich vor meiner Übellaunigkeit in Deckung zu bringen, je weniger sie mit mir umgehen konnten und wollten, desto stärker entwickelte ich eine Sensibilität für Musisches. Ich fing an zu fotografieren, statt wie bisher Schnappschüsse zu machen nach dem Motto »Hauptsache im Kasten«. Ich kaufte Blumen, nahezu täglich frisch, ich konnte mich an ihnen nicht mehr sattsehen. Ich versuchte mich selbst daran, Gebinde zu stecken. Dekorierte die Wohnung, vertiefte mich in Bildbände. Zwar rührte ich meine Gitarren nicht mehr an, weil das Singen anstrengte und ich die kalten dürren Finger nicht mehr ganz so schnell über den Hals laufen lassen konnte wie zu den Zeiten, in denen ich zwei, drei, manchmal gar vier Stunden ins Musizieren versunken war. Dafür erhöhte ich den Musikkonsum via Radio, CD oder DVD . Je mehr ich mich zerstörte, je mehr meine Inneres zerriss, desto intensiver fand ich Halt in Natur, Literatur, Kultur.
Die Erinnerung an das Ackern und Hungern zerreißt mich. Zum einen ist da tatsächlich noch immer der Stolz auf das Erreichte. Anna tätschelt mir anerkennend die Wange – Knochen klackt an Knochen – und lobt mich für diese Leistung eines unbändigen Willens. Sie findet es nach wie vor meisterhaft, wie ich alleine mit der Kraft meiner Gedanken in so kurzer Zeit so viel abnehmen konnte. Und dabei immer noch so sportlich – einfach toll! Auf der anderen Seite wird mir der Wahnsinn meines Handelns dann wieder bewusst. Und ich sage nicht meines damaligen Handelns – ich steige ja immer noch jeden Tag aufs Rad! Ich stecke immer noch in derselben Mühle, im selben Hamsterrad und strample, versuche einen Vorsprung herauszufahren auf das Fett, das ich schlabbernd und geifernd auf meinen wunden, knöchernen Fersen wähne. Jeder Tag beginnt mit dieser Plackerei auf dem Ergometer. Eine Zwangspause legte ich lediglich in Prien ein, aber auch dort fand ich ja meine Ersatzdroge in Form von Power-Spaziergängen und sinnlosem Treppenlaufen. Dabei wünschte ich mir so sehr, dass das endlich einmal aufhören würde. Oft schon habe ich es mir vorgenommen. »Morgen nicht. Morgen bleibst du mal liegen. Morgen nicht wieder um 4.30 Uhr raus!« Dann aber wird aus morgen heute, 4.30 Uhr. Das schlechte Gewissen kriecht unter der Decke hoch. Es ist 4.34 Uhr, die Decke ist weg, und ich bin auf dem Weg zum Rad. »Komm, nur nicht versagen! 90 Minütchen gehen immer.« – Für wen mache ich das überhaupt?
Ich gebe mir keine Antwort. Immerhin schaffe ich es jetzt ab und zu mal nach draußen. Aber auch dort bin ich permanent und überall mit dem Thema Essen, meinem Thema, konfrontiert. Wenn ich mittags durch die Stadt laufe, zieht mir natürlich wie jedem anderen der Duft von Gebratenem und Frittiertem in die Nase – Döner, Hähnchen, Pommes. Und natürlich läuft mir das Wasser im Mund zusammen.
Obwohl: Nein.
Dazu lasse ich es nicht kommen. Die Verbotszone beginnt schon hier. Also sage ich: Das Wasser läuft mir im Kopf zusammen. Ich bekomme den Anflug einer Fantasie davon, wie es wäre, mir alle diese Schweinereien und Rindereien und Hühnereien zu gönnen.
Dabei bleibt es dann auch. Denn aus dem Wasser wird ein Fettfluss, dessen Quelle hier entspringt. Genau hier und jetzt.
Schnell weg, heißt
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