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"Dann iss halt was!": Meine Magersucht – wie ich gekämpft habe – wie ich überlebe (German Edition)

"Dann iss halt was!": Meine Magersucht – wie ich gekämpft habe – wie ich überlebe (German Edition)

Titel: "Dann iss halt was!": Meine Magersucht – wie ich gekämpft habe – wie ich überlebe (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Frommert , Jens Clasen
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mein Rezept.
    Nur damit eines klar ist: Ich habe Hunger. Selbstverständlich spüre ich, wie er an mir nagt, mich von innen her verbrennt. Das ist ja auch einer der Gründe, warum ich mir ständig irgendein Programm verordne, um mich abzulenken: arbeiten, Sport treiben, shoppen, Kalorien zählen, Bücher schreiben …
    Hunger verjährt nicht. Daran kann sich niemand gewöhnen, auch nicht, wer aus freien Stücken seit Jahren darbt.
    Und natürlich habe ich Appetit. Ich verspüre nach wie vor die Lust, einmal richtig ins Brot zu beißen. Ich reagiere nicht angewidert auf den Geruch von gebratenem Fleisch. Auch ich habe noch in Erinnerung, wie unfassbar lecker das schmecken kann.
    Ich beiße dennoch nicht zu – weil ich nach wie vor eine unbändige Angst davor habe, wieder dick zu werden, die Kontrolle zu verlieren. Es ist wie eine schleichende Todesangst, die mich befällt, sobald ich etwas Leckeres rieche. Ich wähne schon die Kilos an meinen Rippen, wenn ich nur daran denke, zubeißen zu können. Mit jedem Quäntchen Leckerduft wächst der Gedanke, der unterschwellig immer da ist: DU WIRST WIEDER FETT !
    Das Verrückte dabei ist allerdings, dass ich mittlerweile schon gar nicht mehr weiß, was das bedeutet: dick. Wann ist man dick? Wie viel Kilo ist dick? Ich kann es gar nicht mehr einschätzen. Welches Gewicht ist denn eigentlich für mich das richtige? Wären 60 Kilo okay – oder schon zu viel?
    60 Kilo …. ? Bis dahin müsste ich nahezu 20 Kilo zunehmen. Unfassbar … Aber vor allem: un denk bar.
    Ich sehe nicht hin, wenn ich an einem Spiegel vorbeigehe, denn ich könnte ja, bei allem körperlichen Verfall, Anzeichen dafür entdecken, dass ich seit Prien wieder zugenommen habe. Was ist das da für eine Hautfalte, war die gestern schon da? Ich habe wie gesagt einen regelrechten Rassismus gegen Fett entwickelt. Ich kämpfe mit allen Mitteln gegen jedes Gramm, zähle Kalorien und Fettwerte, wähle im Zweifelsfall immer die kleinere Menge. In dem anderen sähe ich einen zwar dünnen Mann, der aber jederzeit wieder auf 140 Kilo anschwellen kann.
    Andererseits mache ich mir Sorgen, richtig ernsthafte Sorgen. Ich sehe wieder das kranke Gerippe und frage mich: Warum tue ich mir das an? Für wen mache ich das? Ich selbst denke, dass es objektiv gesehen nicht »schön« oder ästhetisch ist, wie ich aussehe. Ich traue mich ja nicht einmal auf die Straße. Und wenn, dann in Sack und Kappe gehüllt. Also schaue ich lieber doppelt weg.
    Aber die Frage bleibt: Wen interessiert es, ob ich dick bin oder dürr? Was ist überhaupt schlank? Wer definiert das? Warum will ich so dünn sein, was will ich dafür alles in Kauf nehmen? Warum habe ich für dieses alberne, oberflächliche Ziel mein ganzes Wesen verändert? Bin in ein Nervenkostüm geschlüpft, das viel zu dünn ist, fast transparent? Wann will ich wieder anfangen zu leben und damit aufhören zu vegetieren? Was will ich noch alles aufgeben an Lebensqualität? Wie viel Zeit will ich verschenken, und wie viel habe ich eigentlich noch? Auf was warte ich? Ich lebe, als hätte ich noch ein zweites Leben in Reserve. Morgen, morgen fange ich an.
    Derzeit ist mein Leben kein Leben. Ich muss mir immer noch fast alles tragen lassen, was schwerer ist als eine Zeitung, komme keine Treppen mehr hoch, habe Probleme beim Aufstehen von Couch und Toilettensitz. Am liebsten stehe ich irgendwo, dann bleibt mir wenigstens die Pein des Aufstehens erspart.
    Ich will mir aber nicht immer alles ersparen.
    Ich will leben.
    Ich würde gern meine Wohnung renovieren, mal wieder Kurztrips zu schönen Orten machen. Aber das ist nahezu unmöglich, mal eben so. Ich bin ja quasi ein Behinderter. Mein Kopf schmiedet Pläne, die der Körper gar nicht auszuführen in der Lage ist. Stattdessen verstelle ich meine ganz persönlichen Messlatten immer weiter – einerseits höher, andererseits tiefer – und versuche entweder, mich darunter durchzuquetschen, oder sie zu überqueren: noch weniger Nahrung, noch mehr Sport.
    Ich sitze also immer wieder da und sage: Es geht so nicht mehr weiter. Kein Vorteil weit und breit, nur Nachteile. Und dann wechselt die Perspektive, schnipp, einfach so, und der gleiche Kopf denkt: Wenn du jetzt wieder anfängst zu essen, dann musst du dich wieder andauernd damit beschäftigen, nicht zu dick zu werden, alles im Blick haben. Das ist mühsam, das ist anstrengend. Lass es sein! All diese Gewissensbisse. »Willst du das?«, fragt Anna und gibt sich gleich selbst die Antwort.

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