"Dann iss halt was!": Meine Magersucht – wie ich gekämpft habe – wie ich überlebe (German Edition)
»… na also!«
Ständig wäre ich ja sonst verfolgt von dem verstärkten Gedankenbeschuss, noch lauter in meinem Kopf diese ganzen Fragen: Habe ich jetzt zu viel gegessen? Wie kann ich das je wieder wettmachen? Sind wir doch mal realistisch: Heute zehn Kalorien mehr bedeutet doch morgen zwanzig Minuten mehr Bewegung. Und übermorgen dann auch, denn hinter das Gestern zurückfallen geht gar nicht.
Nein, sicherheitshalber das Bewährte leben und nach Herzenslust auskosten: Menschen? Freunde? Unterhaltungen? War doch alles da. Ich knipste mir meine Morgengesellschaft einfach an. Einst war ich strikter Gegner vom Fernseher im Schlafzimmer gewesen. Mittlerweile war er mein engster Verbündeter im Kampf gegen die Abwechslung vom Alltag, gegen die Überraschungen, Drehungen und Wendungen im Leben.
»Guten Morgen, Christian«, schienen sie zu sagen: Sven, Anne, Donald und Ben, Dunja, Cherno und Peter. Allesamt waren sie angetreten, mir den Morgen zu versüßen mit ihren öffentlich-rechtlichen Magazinen. Dabei kam mir ihr Programm-Schema mehr als zupass. 210 Minuten Endlosschleife. Nachrichten, Wetter, Politik, Wirtschaft, Kultur, Buntes, Sport, Nachrichten, und wieder von vorne. Ich lag und schaute, ich trieb Sport und schaute, und manchmal notierte ich. Kaum war der Buchtipp ausgesprochen, schon war es bestellt, das Buch.
Das TV lief den ganzen Tag. Nur um das Gefühl zu haben, da ist ja jemand. Stille war bedrohlich, weil ich dann meinem Hirn beim Denken zuhören musste. So redete jemand, irgendwo war Leben, und sei es in diesem flachen Ding da an der Wand. Ich sah sie, sie mich nicht. Perfekt. Das war meine Welt, morgens ab 5.30 Uhr, mein Fenster nach draußen. Der Rest konnte mir gestohlen bleiben.
Sie halten das für grotesk? Mag sein, aber das war erst der Tagesanfang.
Ich verließ die Wohnung, um erst zum Bäcker zu gehen. Der war um die Ecke. Eigentlich. Doch um die ging ich nicht. Aus 100 Metern machte ich gut das Zehnfache. 34 allmorgendlich abgezählte Treppen hoch, zwei Hügel hinauf, einen Steilhang hinunter, die lange Hauptstraße entlang, und dann war ich ja auch schon da. Dieselben Menschen, die gleichen Gespräche, die gleichen zwei Brötchen. Jeden Morgen. Dann nichts wie rüber in mein Kaufhaus. Ich hatte tatsächlich das Gefühl, dass es irgendwie mir gehörte. Dort lagerte mein Obst, mein Gemüse, mein Quark, mein Süßstoff, meine Zeitungen und Zeitschriften. Auch hier ging ich immer die gleichen Wege, wie an der Schnur gezogen. Ich gehörte zum Inventar. Ich zog meine Aufenthalte dort, solang es eben ging, hin, ich fühlte mich daheim. Zu Hause flimmerte das Vormittags-Programm alleine vor sich hin, weiter, immer weiter. Es sollte das Leben toben, wenn ich wieder nach Hause kam. Doch noch war es nicht so weit: ein Abstecher zu dm , zu Aldi und Lidl , vor allem aber zu Globus , OBI , Hornbach und Co.
Auch hier waren die Regale voll mit dem, von dem ich nichts brauchte. Gar nichts. Kein Heizungsventil, kein Teppichmesser, keine Gärungssäge und kein Wischmopp. Ich hatte schon alles. Mindestens einmal. Der Kaufrausch fand kein Ende, und ich fand immer neue Schätze. Dampfstrahler, Bohrmaschine, Fliesenschneider. Ich, der Mann mit den beiden linken Handwerker-Händen, erhob das Lied von Reinhard Mey zu meiner Hymne: »Männer im Baumarkt«. Ich kaufte alles, außer Tiernahrung, und benutzte nichts davon. Kabelbinder, Schrauben, Überspanndosen, Glühbirnen, Energiesparlampen, mehrfach Mehrfachsteckdosen, Zeitschaltuhren für In- und Outdoor, Filzgleiter, Messer- und Scheren-, Schraubenzieher- und Zangensets, Hochdruck- und WC-Reiniger, Seife, Raumdüfte, Duschbäder, Klettverschlüsse, Batterien.
Kaum zurück im Auto, wählte ich die Nummer von Nachbar Dieter: In wenigen Minuten würde ich vorfahren, ob er mir helfen könne, all diese frisch erworbene Ware in mein Verlies zu schleppen. Dieter schleppte, seine Frau Uschi schleppte auch, derweil ich das Auto in der Tiefgarage parkte. Dann schleppte auch ich: mich die Treppen hinauf. Endlich oben angekommen, war ich wieder alleine. Die beiden hatten die Ware vor der Tür abgestellt, und sich danach wieder in ihre Wohnung zurückgezogen. Es lief perfekt, wir trainierten ja auch fast jeden Tag. Von nun an lief nur noch der Fernseher.
Ich saß am Rechner – die Kiste flimmerte. Ich kletterte noch einmal aufs Rad – das TV blieb an. Ich aß einen Happen – das Fernsehen lenkte mich ab. Gerade beim Essen brauchte ich Zerstreuung. Nur nicht auch
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