"Dann iss halt was!": Meine Magersucht – wie ich gekämpft habe – wie ich überlebe (German Edition)
anderen stehen. Eine Gefälligkeit löste immer eine Gegengefälligkeit aus, genauso wie eine Ablehnung beziehungsweise ein Unverständnis ein anderes. Immer gab es Aktion und Reaktion.
So war unsere Reise eigentlich ein einziges, wochenlang währendes Missverständnis. Ich hatte mich auf kühle Schultern und kalte Füße eingestellt, packte entsprechend, hatte also genügend Klamotten dabei, um nicht zu frieren. Dass der Trip in den australischen Sommer aber so frostig werden könnte, hatte ich nicht für möglich gehalten. Gegen diese Eiseskälte, die immer wieder zwischen meiner Mutter und mir aufflammte, halfen kein Gore-Tex, kein Fleece und kein Sonnenbad. Irgendwie waren wir beide immer schlecht gelaunt, nie gelöst, stets angespannt. So wie ich vor langer Zeit, hatte sich nun auch meine Mutter in ihre eigene Welt zurückgezogen. In einen gefilterten, verklärten Mikrokosmos mit all seinen Regeln und Vermutungen, Vorstellungen, Gewohn- und Wahrheiten.
Es war zermürbend. Ein teuflisches Spiel mit der Sehnsucht nach Harmonie und Nähe, die wir beide in uns trugen und die wir unfähig waren zu synchronisieren. Egal, ob ich sie umarmen wollte, ihr einen intimen Brief geschrieben und dazu einen Opal geschenkt habe – sie blieb hart. Sie kam mir selbst vor wie ein Opal.
Irritiert hat mich vor allem ihre Ignoranz gegenüber meiner Krankheit. Ich wollte kein Mitleid. Schließlich war ich für all das, was ich mir antat, selbst verantwortlich. Ich wollte das alles so, und vor allem: Ich wollte es nicht ändern. Magersucht ist eine egoistische Krankheit. Alles bemisst sich nur an der subjektiven Sicht. Sie mag ihre Ursachen haben, die nicht nur in einem selbst liegen. Aber in ihrer Ausprägung wird es allen anderen unmöglich gemacht, objektiv regulierend einzugreifen. Bekannte, Freunde, Familie – sie alle müssen ohnmächtig zusehen, wie man sich jeden Tag selbst belügt und mit Feuereifer immer weiter vor sich hin selbst tötet. All das flüsterte mir der noch funktionierende Teil meines Hirns zu, der aber längst nichts mehr zu sagen hatte. Ein wenig mehr identifizierende Anteilnahme für den Zustand ihres leiblichen Kindes hatte ich mir von meiner Mutter jedoch schon erwartet.
An jenem 11. März 2011 zum Beispiel. An jenem Tag, an dem die Welt in Japans Nordosten damit zu beginnen schien unterzugehen. Im Fernsehen liefen diese unverdaubaren Bilder, die Menschen um ihr Leben laufend zeigten, in Fluten untergehend oder von Steinen erschlagen.
Derweil ließen die beiden Schulkameradinnen in Australien die Historie ihrer gut 65 Jahre Kochleidenschaft Revue passieren und tischten damit auch allen Anwesenden im Raum auf. Ich wollte nicht zu-, konnte aber auch nicht weghören. Ich war fasziniert angewidert. Der Druck im Kopf wurde immer größer, denn natürlich erzählte gerade meine Mutter auch von Gerichten, die ich einst mit Genuss und in ordentlichen Mengen in mich hineingeschlungen hatte. Noch heute erinnere ich sie nicht unbedingt als unappetitlich. Trotzdem war mehr als offensichtlich, dass dieser Gesprächsstoff nicht zu meinen Lieblingsthemen gehörte, vorsichtig ausgedrückt. Ich wollte aber nicht schreiend zu den Ausgängen rennen und mich unter lautem Zuschlagen der Zimmertür hinter selbiger verbarrikadieren. Diese Zickigkeit gönnte ich den anderen und mir nicht. Ich bat meine Mutter flehenden Blickes, das Thema doch zu wechseln. Sie sah mich an, und die beiden schwätzten sich weiterhin genüsslich durch ihre Jahrhundertküche. Ich sprach sie anderntags darauf an. Und sie hatte ein einfaches Rezept gegen mein Leiden: »Dann musst du eben mehr essen.« Das war’s.
Es fraß an meinen Nerven, all das entwickelte sich immer mehr zu einer Last, die ich nicht stemmen, von der ich mich aber partout nicht befreien konnte. Steffi überlegte irgendwann, sich dieser durch und durch kranken und krank machenden Situation zu entziehen und in ein Hotel zu gehen – und sie wollte mich mitnehmen. Aber wie sympathisch mir der Gedanke zunächst war, es ging nicht, schließlich war ich es doch gewesen, der meine Mutter hierhergeschafft hatte. Aber andererseits, dachte ich, will sie es doch selbst so! Selten war ich innerlich derart zerrissen gewesen. Auf der einen Seite drängte mich dieses wunderschöne, vor Leben und Lebensfreude sprühende Land mitsamt seiner fröhlichen und bis auf wenige Ausnahmen unkomplizierten Art dazu, endlich loszulassen und zu leben. Auf der anderen Seite zerrte meine Mutter an mir, die
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