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"Dann iss halt was!": Meine Magersucht – wie ich gekämpft habe – wie ich überlebe (German Edition)

"Dann iss halt was!": Meine Magersucht – wie ich gekämpft habe – wie ich überlebe (German Edition)

Titel: "Dann iss halt was!": Meine Magersucht – wie ich gekämpft habe – wie ich überlebe (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Frommert , Jens Clasen
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hatten uns das anders vorgestellt. Aber vielleicht hätte man es besser wissen müssen. Der magersüchtige Sohn fliegt mit seiner 80 Jahre alten Mutter nach Australien. Zu einer 81 Jahre alten Freundin. Das musste doch im Fiasko enden. So viele Mediatoren und Schlichter konnte man da gar nicht mitnehmen. Ich wusste aber auch, es brach ihr das Herz, wie sie mich leiden sah, wie sie den einst fröhlichen Christian immer verschlossener, übellauniger erlebte. Dabei zusehen musste, wie aus ihrem Jungen, einem einst ganz patenten Kerl, ein Männlein wurde, für das man sich schämen muss. Sie konnte damit nicht umgehen. Und ich auch nicht.
    Manchmal schien das andere Ende der Welt aber auch eine verkehrte zu sein. Angesichts dessen, was meine Mutter so tapfer in sich hineinstopfte, und der Freiheit wiederum, die ich mir nahm, mich derlei eben hartnäckig zu widersetzen, beneidete sie mich und wünschte sich wahrscheinlich auch so etwas wie eine Magersucht, die vorgeschoben werden konnte. Zumindest eine klitzekleine Essstörung. Eine Allergie vielleicht. Und ich? Ich ertappte mich dabei, wie ich wieder einmal die beneidete, die sich so herzlich um nichts scherten. Unbekümmert aßen und tranken, nicht auf Kalorien schauend, nicht auf Tageszeiten achtend. Einfach fröhlich und unbeschwert genossen, getrieben von Lust und Laune. »Ice Cream, anybody!?« In mir schrie es » JA !! ICH !!« Und nach außen signalisierte ich: Habt ihr mal auf die Uhr geschaut? Gott bewahre, wie kann man nur?! FETT, ZUCKER !
    So ging es mir immer. Ich spürte das hier, selbst beim Anblick mikrowellenherdgewärmter Hausmannskost. Und ich spürte es in den Food-Courts der riesigen Einkaufsmalls, in denen der Geruch aller Speisen dieser Erde zu einer einzigen Aromawolke zu verschmelzen schien. Für meine Verhältnisse rannte ich geradezu durch diese Schlemmerparadiese. Vorbei an Vietnam, Thailand, China, geradeaus Richtung Mexiko, USA, Indien, bis ich endlich am Ende des Ganges verschwinden konnte. Erleichterung garantierten die dort hängenden Porzellan-Urinale – made in Germany.
    Und so verschmäht die eine wie der andere Genussversprechendes: Schnittblumen, Kalorien, Liebe. Wo ist der Unterschied?
    Vielleicht denken Sie jetzt: welch undankbarer, kleiner Scheißkerl. Wie kann man nur seine Mutter derart schlecht machen? Ich mache sie nicht schlecht. Im Gegenteil. Der Punkt ist der: Ich bin sie. Sie ist ich. Wir sind verschmolzen, verwoben, heilloses Durcheinander. Ich sah dabei zu, was sie alles geschehen, mit sich machen ließ, ohnmächtig, sich dagegen zu wehren. Ich sah, wie man diese Frau ausnutzte, eben weil man es konnte, sie es zuließ, es nachgerade herausforderte. Und es machte mich wütend, denn ich sah in einen Spiegel. So gerne wollte ich sie schützen, sie aufrütteln, und damit auch mich. Es trieb mich schier in den Wahnsinn, was ich da sah, sie trieb mich in den Wahnsinn. Mein bis dahin nie gekannter Jähzorn, mein respektloser Tonfall und meine verbitterte Ansprache – es war nichts anderes als die reine Hilflosigkeit dieser Frau gegenüber.
    Was man ihr antat, tat man mir an. Es war wie der Stich in eine Voodoo-Puppe. Ich spürte den Phantom-Schmerz. Ich versuchte ihr das Leben schön zu machen, indem ich alles tat, was man nur tun kann. Von mir sollte sie nicht enttäuscht werden. Doch es war der Versuch, mit einem Löffel einen Tunnel von Deutschland nach Australien zu graben.
    Auch in den Momenten, in denen wir uns nahe waren, kam keine Wärme auf. Ich war ihr peinlich. Ich war ein Defekt, ihr Defekt. Sie gab mir jederzeit das Gefühl, ohne mich nicht leben zu können – mich aber dennoch nicht zu ertragen. Ich war ein Teil von ihr, und darum mussten an mir alle Teile funktionieren. Und wenn ich nicht funktionierte, dann hatte ich versagt, nicht nur ein wenig, sondern komplett.
    Ein Magersüchtiger funktioniert aber nicht, jedenfalls nicht in ihrem Sinne. Und den Unmut darüber wie auch über alles andere ließ sie mich spüren.
    Es machte mich traurig und zornig gleichermaßen, dass sie mir stets den Eindruck vermittelte, ich würde sie enttäuschen. Mir auch nur ansatzweise zu zeigen, dass ich sie glücklich machte oder sie mir dankbar war, fiel ihr unsagbar schwer.
    Selbst bei den Hilfsdienstleistungen, die wir uns gegenseitig angedeihen ließen, wetteiferten wir. Es war ein: Wie du mir, so ich dir. Du schenkst mir etwas, warte nur ab, das bekommst du irgendwann zurück. Es war grotesk, keiner wollte in der Schuld des

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