Dann mach ich eben Schluss
Können an sich zu beweisen? Sie hat es sogar geschafft, die knotigen Finger einer alten Dame zu zeichnen, die in die Gitterstäbe greifen, um einem der beiden Vögel über das Gefieder zu streichen. Ich beneide sie. Auch die meisten anderen Zeichnungen, auf die ich im Vorbeigehen noch einen Blick erhaschen kann, wirken so durchdacht und gekonnt und dabei doch so fantasievoll, dass ich zutiefst verunsichert den Raum verlasse. Gegen all diese Künstler habe ich bestimmt keine Chance, sie zeichnen alle so viel besser als ich, haben sich bestimmt längst mit berühmten Künstlern verschiedener Epochen und deren Stil befasst, sich mit Kunstgeschichte beschäftigt, vielleicht bereits kleine Jobs in Werbeagenturen oder Verlagen angenommen. Ich habe nur die Kenntnisse aus dem Kunstunterricht in der Schule und zeichne immer, was mir gerade in den Sinn kommt. Also rechne ich mir keine besonders groÃen Chancen aus. Mit einem Kopfnicken verabschiede ich mich vom Lehrer, der uns nur einen ungefähren Zeitraum nennt, bis zu dem wir per Post erfahren werden, ob wir an der Schule angenommen worden sind oder nicht. Dann verlasse ich das Gebäude und blicke nicht einmal zurück, aus Angst, es zu sehr zu wollen und später enttäuscht zu sein, wenn nichts daraus wird.
15.
In dieser Woche fühle ich mich ständig gehetzt. Zur Schule, dem Lernen zu Hause und dem regelmäÃigen Klavierunterricht ist nun noch die Nachhilfe in Mathe hinzugekommen, die mein Vater für mich gebucht hat. Bei diesen Stunden bin ich manchmal so müde, dass ich es kaum schaffe, die Augen offen zu halten. Auch verstehe ich den Stoff nicht richtig, weil die Lehrerin ganz anders erklärt als Herr Brückner. Abends muss ich meinem Vater alle Unterlagen und Mitschriften vorlegen und ihm erklären, was ich gelernt habe, deshalb versuche ich aufzupassen, so gut es geht. Es gelingt mir nicht immer, und dann versucht er mir den Stoff einzutrichtern, oft bis spät in den Abend.
Dafür tanke ich bei Delia auf. Fast jeden Tag versuche ich, zumindest eine Stunde zwischendurch für uns beide herauszuschlagen, helfe ihr im Laden oder hole sie ab, wenn sie Pause hat. Wir gehen spazieren oder Essen, ich genieÃe es, mit ihr in Schnellimbisse zu gehen oder Kuchen und belegte Brötchen zu holen. Wenn es nicht regnet, picknicken wir an einem der vielen verschwiegenen Plätze, die Delia kennt, essen und reden, sind zärtlich zueinander. Einmal fahren wir mit den Fahrrädern am Kanal entlang und legen uns unter eine Trauerweide, zum ersten Mal ist es warm genug, um die Schuhe ausziehen zu können. Ihr Mischlingshund Robby, ein bunt gescheckter mittelgroÃer Rüde, den sie nach ihrer Krankheit aus dem Tierheim geholt hat, ist auch dabei. Sobald Delia ihn ableint, schieÃt Robby los und schnüffelt überall herum, als könne auch er es noch nicht fassen, wieder lockeren Erdboden und die ersten Gänseblümchen zu riechen.
»Endlich wieder die FüÃe im Gras«, schwärmt Delia, und sie hat recht, es fühl sich toll an. Sie nennt es ihr »Ostergefühl«, wie ein neu erwachender Herzschlag. Ich küsse sie und stecke ihr eine Sumpfdotterblume ins Haar. Delia holt Apfelkaugummis aus ihrer zerfransten Stofftasche, deren Geschmack mich an meine Kindheit erinnert; an endlose Sommerferien, ans drauÃen Spielen mit meinen Freunden. Als ich mich auf den Rücken lege, um die Nachmittagssonne auf meinem Gesicht zu genieÃen, schleicht sie ans Ufer und schöpft Wasser in ihre Hände, um es mir ins Gesicht zu schütten. Ich springe auf und jage sie, wir balgen und albern herum, bis wir uns schlieÃlich erschöpft in die Arme fallen und in einem langen Kuss versinken.
In Augenblicken wie diesen ist meine Todessehnsucht weit weg, Delia verweht sie einfach mit ihrer ansteckenden Fröhlichkeit und ihrem Entschluss, leben zu wollen. Nur wenn ich mit ihr Zukunftspläne schmieden will, blockt sie ab, und ich weiÃ, worauf sie wartet. Delia fragt mich nicht mehr nach Annika; ich bin derjenige, der verkünden muss, dass Annika und ich kein Paar mehr sind. Dass ich nur mit ihr zusammen bin. Delia hätte es verdient. Sie fragt mich nicht. Ich weiÃ, dass sie wartet.
»Du hast kaum noch Zeit«, beklagt sich Annika dafür am Freitagmittag, als wir nach der letzten Stunde mit Johanna, Marie-Luise, Paul, Simon und Justus noch vor dem Haupteingang stehen. Die anderen schmieden
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