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Dann mach ich eben Schluss

Dann mach ich eben Schluss

Titel: Dann mach ich eben Schluss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Fehér
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Drang in mir, meiner Fantasie freien Lauf zu lassen. Sie lautet »Blick in einen Vogelkäfig« und wir sind sogar vollkommen frei in der Materialauswahl für dieses Bild. Also breite ich neben den Bleistiften auch Ölkreide und Kohlestifte aus, ich spüre, wie es in mir zu lodern beginnt. Vogelkäfig, das erinnert mich an mich selbst, an mein eigenes Gefühl von Gefangensein. Also zeichne ich als Erstes den Käfig, einen schönen, geschwungenen, komfortabel ausgestatteten. Im Körnerfutterbehälter platziere ich ein kleines Hinweisschild mit der Aufschrift »Biodoping-Müsli – mit Liebe gemixt für Hochbegabte«. Zur Beschäftigung des eingesperrten Federtiers, das ich selber bin, kommt eine Truhe mit schillernden, farbigen und weißen Federn zum Schmücken auf den Käfigboden, ein Spiegel mit der Gravur »Immer schön stylish bleiben«, einige winzige Sportgeräte für die körperliche Ertüchtigung des Vogels – Stufenbarren, Hanteln, vor allem ein rasantes Skateboard darf nicht fehlen. Einen Schreibtisch mit Drehstuhl davor zeichne ich, klein wie in einer Puppenstube, darauf ein turmhoher Stapel Lehrbücher, Papier und Hefte, ein Bildschirm mit Tastatur. Einen Fernseher mit Ohrensessel und ein Klavier zur Zerstreuung. Ein Paradies hinter Gitterstäben – nein, ein Ort der Gefangenschaft, um die Erwartungen anderer zu erfüllen. Ein Mix aus beidem. Die Klappe zum Öffnen des Käfigs ist durch ein Schloss verhängt: du kommst hier erst raus, wenn wir alle zufrieden mit dir sind. Der Flug in dein eigenes Leben kostet fünfzehn Punkte in allen Fächern.
    Aber dann zeichne ich zwei Gitterstäbe, die auseinandergebogen sind. So weit, dass der Vogel hindurchschlüpfen kann, sogar die daneben liegenden Stäbe sind in Mitleidenschaft gezogen. Der Gefangene, ein Exemplar einer seltenen, leuchtend blauen Tukanart hat es geschafft, mit seinem kurzen, kräftigen Schnabel die Stäbe auseinander zu biegen. Nächtelang hat er daran gearbeitet, aber schließlich ist es so weit, er ist frei, und noch ehe seine Bewacher etwas davon mitbekommen können, hüpft er hinaus, breitet seine Flügel aus und entfaltet die Schwingen, und ohne einen Blick zurück hebt er ab, ich zeichne von ihm nur die Schwanzfedern und die Krallen, ein kleines Stück vom Rumpf, ganz oben am Bildrand, in meinem kräftigsten Ultramarinblau aus Ölkreide, den Rest des Bildes habe ich in gedeckten, pastellartigen Farben gehalten, die Schriften, mit Ausnahme der Spiegelgravur, in schwarzem Scriptol.
    Ich habe mich richtig in Trance gezeichnet und fahre zusammen, als der Lehrer vorn ankündigt, es wären nur noch zehn Minuten Zeit. Aber ich bin auch so gut wie fertig. Also halte ich mein Bild auf Armeslänge von mir ab und betrachte es, ich habe ein gutes Gefühl, Perspektive, Lichteinfall und die anderen technischen Dinge scheinen auch hier gelungen, dazu hat die Zeichnung etwas Außergewöhnliches, weil sie symbolische Dinge enthält, in die der Betrachter etwas hineininterpretieren kann, sich vielleicht selbst darin wiederfindet. Und weil sie von mir erzählt. Das ist auch so ein Bild, was ich eines Tages, wenn ich mal sehr viel Mut habe, meinem Vater zeigen müsste. Vielleicht wage ich es nie.
    Dann ist die Zeit abgelaufen, und als ich von meinem Stuhl aufstehe, merke ich erst, wie geschafft ich bin. Ich habe so konzentriert gearbeitet, dass ich mich fühle wie nach einer dreistündigen Matheklausur, nein doch nicht, dieses Gefühl jetzt ist anders, ich bin zufriedener, es ist, als wäre ich wirklich mit meinem blauen Tukan abgehoben und hätte mich freigearbeitet. Ich strecke meinen Körper, dann nehme ich meine beiden Blätter vom Tisch auf und gehe nach vorn, um sie abzugeben.
    Dabei versuche ich, ein paar Blicke auf die Arbeiten der Anderen zu erhaschen. Verflixt, denke ich, es ist genau wie ich gedacht habe, es sind richtige Freaks darunter, die offenbar nie etwas anderes tun als Zeichnen und Malen. Einer hat eine ganze Berglandschaft mit Seen und Flüssen in seinen Käfig gezeichnet – geniale Idee, um auf Umweltprobleme hinzuweisen. Ein Mädchen dagegen zeichnet die letzten Striche eines ganz normalen Käfigs mit zwei Wellensittichen darin, der unglaublich realistisch aussieht – war das vielleicht die eigentliche Aufgabe? Haben ich und der andere Junge das Thema verfehlt; ging es nur darum, das

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