Dann mach ich eben Schluss
braucht er eine Verschnaufpause. Wenn er mit Natalie in Kontakt bleiben möchte, muss er es sagen. Sie hat ihm schon genug Energie geraubt. Jetzt muss sie ihm Zeit geben, wieder zu sich selbst zurückzufinden, zurück zum Leben, seinem eigenen Leben, weg vom Tod. Nur weil er jetzt Eigentümer von Max´ Sachen ist, muss er nicht weiter dessen Schicksal in sich aufsaugen. Jonathan hat seine eigenen Pläne, auf die er sich nun wieder besinnen wird.
»Tja, dann«, beginnt sie ein wenig zögernd und lächelt schwach, wie eine Frischoperierte, die gerade aus der Narkose erwacht und einen lieben Menschen erblickt, der sich über sie beugt. »Ich glaube, dann geh ich jetzt besser. Danke für alles, Jonathan.«
»Was willst du jetzt machen?«, fragt er.
»Irgendwie anfangen«, meint sie achselzuckend. »Ein wenig Saxofon üben, vielleicht mal meine Band für eine Probe zusammentrommeln, wenigstens übernächste Woche oder so. Vorhin habe ich gemerkt, wie sehr mir das Spielen fehlt, ich hab das Instrument noch kaum angerührt, seit Max nicht mehr lebt. Vielleicht renoviere ich irgendwann mein Zimmer. Dann wird nicht nur das von Max umgestaltet, sondern auch meins. Aber das wird noch dauern.«
»Noch trägst du die Halskrause«, erinnert Jonathan sie. »Bevor du das überstanden hast, wäre es keine gute Idee.«
Natalie nickt. »Und wenn ich wieder zur Schule gehen kann, werde ich was gegen Bollschweiler unternehmen. Für Max. Wenigstens das bin ich ihm schuldig.«
»Bollschweiler?«
»Einer unserer Lehrer, ein ziemlich neuer, junger. Keiner kann ihn ausstehen, in jeder Stunde bei ihm wird der Klassenraum zur Schockgefriertruhe.«
»Bei einem jungen Lehrer? Als ich noch zur Schule gegangen bin, wären wir froh gewesen, mal von jemandem unter sechzig unterrichtet zu werden.«
»Wenn er verständnisvoll ist und man trotzdem was bei ihm oder ihr lernt, klar. Bollschweiler ist aber einfach nur arrogant. Für jemanden wie Max also das reinste Gift.« Natalie will noch etwas hinzufügen, ringt nach Worten, gestikuliert wild. »Wenn ich darüber rede, kommt alles sofort wieder hoch. Ich lasse es lieber. Aber so ohne Weiteres kommt der mir nicht davon.«
»Finde ich gut, wenn du dich engagierst. Und wenn es nur dazu dient, den Schmerz zu verarbeiten, soweit das überhaupt möglich ist.«
»Irgendwas muss ich tun«, sagt Natalie. »Sonst drehe ich durch. Ich hab eine Idee: Ich werde die Zeichnungen verschicken. Jeder bekommt seine; Paul, Annika, und mal sehen, ob ich noch mehr finde. Was soll ich auch sonst damit machen?«
»Coole Idee. Wahrscheinlich werden die Zeichnungen einigen Leuten die Augen öffnen.«
»Also dann ⦠noch mal vielen Dank«, sagt Natalie. »Du hast mir echt geholfen. Es hat gut getan, mit dir zu reden.«
»Mit dir aber auch«, meint Jonathan und lächelt. »Hat mich schon aufgewühlt. Nicht nur das, was du über Max erzählt hast.«
Es dauert einige Sekunden, bis Natalie begreift. Nicht nur alles über Max. Aufgewühlt, das ist auch mit ihr passiert und auch nicht nur, weil sie alles noch einmal durchlebt und durchlitten hat, während sie zu Jonathan davon sprach. Nicht alles, längst nicht alles. Vieles hat sie nur angedeutet, weil sie es anders nicht ausgehalten hätte. Aufgewühlt ist sie in diesem Moment, weil jetzt der Abschied von Jonathan bevorsteht, ein Abschied, der längst nicht so überwältigend ist wie der von ihrem Bruder und ihr nur einen kaum wahrnehmbaren Stich versetzt, der nichts ist im Vergleich zu dem Gefühl, als wäre ihr ein Teil ihres Körpers und ihrer Seele entrissen worden; dieses Gefühl raubt ihr jedes Mal fast den Verstand, wenn sie an Max denkt. Aber auch der Gedanke, jetzt von Jonathan fortgehen zu müssen, hinterlässt schon jetzt ein kleines, leeres Gefühl in ihr.
»Vielleicht sieht man sich irgendwann wieder«, äuÃert sie ein wenig verlegen und sieht ihn an, versucht sich sein Gesicht einzuprägen, die leicht aufwärts gerichteten Mundwinkel, die hellblauen Augen, die nach hinten gebundenen Haare. Ãber der linken Augenbraue hat er einen kleinen Leberfleck, den sie gerade zum ersten Mal wahrnimmt. Jonathan nickt eifrig.
»Klar«, beeilt er sich zuzustimmen. »Wir können gerne mal was zusammen machen.«
»Dann bis vielleicht bald.« Natalie lächelt
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