Dann muss es Liebe sein
hat. Ich halte das nicht für übertrieben. »Wann hattest du das letzte Mal Urlaub?«, setze ich hinzu. »Seit ich dich kenne, hattest du nicht einen einzigen freien Tag.«
»Das geht im Moment nun mal nicht.« Alex lächelt wehmütig. »Du und Emma, ihr habt es gut. Wenn ich in Gegenwart meines Vaters auch nur das Wort ›Vertreter‹ oder ›Assistent‹ in den Mund nehme, bekommt er einen Tobsuchtsanfall.«
»Manchmal klingt es fast so, als hättest du ein bisschen Angst vor ihm.«
»Ich habe Angst davor, was passieren könnte, wenn ich ihn allein ließe – wahrscheinlich würde er tot umfallen.« Alex drückt erneut gegen die Tür, doch ich halte dagegen.
»Und was wäre, wenn du einfach noch mal neu anfängst, etwas ganz anderes machst?«
»Was denn?«, erwidert er schlicht. »Du kennst das doch. Ich bin Tierarzt. Das ist kein Beruf, sondern mein Leben.«
»Du könntest irgendwo anders eine eigene Praxis eröffnen …«
»Talyton verlassen?« Alex schaut mir in die Augen. Er öffnet die Boxentür, nimmt mich in die Arme und flüstert: »Und dich?«
7
Ein Spatz in der Hand
»Warum macht er denn nicht die Augen zu?« Shannon schnieft in ein Papiertaschentuch, während sie den Blick nicht von der Ratte wendet, die, feierlich auf einem violetten Kissen aufgebahrt, auf dem Behandlungstisch liegt.
Es ist Samuel Whiskers, einer meiner Lieblingspatienten, eine sensible, freundliche Haubenratte, die klüger und sehr viel umgänglicher war als manche meiner Kunden. Aber jetzt sind seine zitternden Schnurrhaare für immer still. Leider war seinen Besitzern die Chemotherapie gegen seinen Krebs zu teuer, und als er heute Morgen schließlich aufgegeben hat und nicht mehr aufstehen und frühstücken wollte, haben sie ihn zu mir gebracht. Ich habe die Gelegenheit genutzt, Shannon zum ersten Mal zu zeigen, wie ein Tier eingeschläfert wird. Und nun wünschte ich, ich hätte es nicht getan – Samuels Besitzer weinten, ich weinte, und sie kann auch nicht mehr aufhören zu weinen.
»Was passiert denn jetzt mit ihm?«, will sie schluchzend wissen.
»Sie nehmen ihn in der Schachtel, in der sie ihn hergebracht haben, wieder mit nach Hause.« Wir haben hier auch irgendwo ein paar aufklappbare Särge aus Karton, doch ich finde, die sehen ein bisschen billig und schäbig aus. »Und da werden sie ihn dann begraben.«
Ich frage mich, wie Shannon reagiert, wenn sie zum ersten Mal erlebt, wie ein Hund oder eine Katze eingeschläfert wird. Ich weiß noch, wie ich es zum ersten Mal in Jack Wilsons Praxis gesehen habe – es war die Endgültigkeit dieses Vorgangs, die mir am meisten zu schaffen machte. Und ich erinnere mich daran, wie wir während des Studiums mit Strohhalmen auslosten, wer ein Pferd erschießen durfte, an den Jubel darüber, dass ich gewonnen hatte, und an das grenzenlose Entsetzen, als das Pferd zu Boden fiel und mir klar wurde, was ich gerade getan hatte.
»Darf ich ihn anfassen?« Shannon streckt die Hand aus und streichelt seinen Kopf. »Er ist noch warm.«
»Es dauert ein bisschen, ehe er kalt ist.«
»Er sieht aus, als würde er schlafen.«
»Aber er ist definitiv tot«, antworte ich. »Sein Herz schlägt nicht mehr, und er hat keine Reflexe.«
»Haben Sie jemals erlebt, dass eines wieder aufgewacht ist?«
»Das ist vollkommen unmöglich.« Eigentlich hätte ich gedacht, dass Shannon mit ihrem ganzen Schwarz das Prinzip »Tod« verstanden hätte. »Wer einmal tot ist, ist tot.«
»Sie haben mich meinen Vater nicht mehr sehen lassen«, sagt sie leise, und ich fühle mich elend, weil ich nicht mehr daran gedacht habe, wie sie ihren Vater verloren und anschließend versucht hat, ihn wieder auszugraben. »Wenn ich ihn so gesehen hätte, so friedlich, dann wäre ich bestimmt besser damit klargekommen. Dann hätte ich richtig um ihn trauern können.« Lange sagt keine von uns ein Wort. »Kann ich jetzt zu Drew gehen und ihm helfen?«, fragt sie schließlich.
»Braucht Izzy dich denn nicht?«
»Izzy scheint sehr gut ohne mich klarzukommen«, entgegnet Shannon. »Aber Drew lässt mich alles Mögliche machen.«
Ich wage nicht zu fragen, was sie mit »alles Mögliche« meint, allerdings ist es wohl doch nicht so schlimm, wie ich befürchtet habe.
»Ich soll für ihn die Etiketten auf die Impfpässe kleben.«
Na, warum nicht? Es ist Mitte Februar, Drew ist inzwischen seit über einer Woche bei uns, und wenn jemand sie aufheitern kann, dann er. Als ich sie das nächste Mal sehe, lächelt sie schon
Weitere Kostenlose Bücher