Danse Macabre
der Epigramme des Buches sind Straubs eigene
Versionen der Sage von Narziß), das uns immerzu daran erinnert, daß das Gesicht, das aus all den Spiegeln sieht, auch das
ist, das hineinschaut; das Buch läßt anklingen, daß wir Gespenstergeschichten brauchen, weil wir selbst die Gespenster
sind.* Ist das wirklich so eine schwierige und paradoxe Vorstellung, wenn man bedenkt, wie kurz unser Leben im größeren Schema des Lebens ist, wo Rotholzbäume zweitausend
Jahre alt werden und die großen Seeschildkröten von Galapagos bis zu tausend Jahren alt werden können?
Die Wirkung von Ghost Story rührt größtenteils daher, daß
das Gespenst der mächtigste der vier Archetypen ist, die wir
behandelt haben. Das Konzept des Gespenstes ist für den
guten übernatürlichen Roman das, was das Konzept des Mississippi für Twains Huckleberry Finn ist - mehr als Symbol
oder Archetyp, vielmehr ein bedeutender Teil des Mythenreservoirs, in dem wir alle baden müssen. »Möchten Sie nichts
über die Manifestationen der verschiedenen Geister in ihr
hören?« fragt der jüngere Priester den älteren, bevor sie vor
der letzten Konfrontation in The Exorcist zu Regan McNeil
hinaufgehen. Er beginnt sie aufzuzählen, und Pater Merrin
unterbricht ihn freundlich: »Es gibt nur einen.«
Wenngleich es in Ghost Story nur so von Vampirismus, Wer
* Einmal spricht Don vor einer Klasse Untergraduierter lange und weitschweifig über das Thema Stephen Crane. Im Verlauf dieses Vortrags
bezeichnet er The Red Badge of Courage als große Gespenstergeschichte, in der das Gespenst niemals auftaucht. Wenn man die stimmungsvolle Abhandlung des Buches über dieThemen Feigheit undTapferkeit betrachtet, dann ist das eine seltsam zutreffende Beschreibung
dieses Romans.
wölfen und fleischfressenden Ghulen wimmelt, gibt es eigentlich nur Alma/Anna/Ann-Veronica … und die kleine Angie
Maule. Sie wird von Don Wanderley als Gestaltveränderer
bezeichnet (was die Indianer einen Manitou nannten), aber
selbst das ist eher ein Zweig als eine Wurzel; diese Manifestationen sind allesamt wie die aufgedeckten Karten bei einem
Spiel Stud-Poker. Wenn wir die verdeckte Karte umdrehen,
die das Spiel entscheidet, finden wir die zentrale Karte unseres Tarotblatts: das Gespenst.
Wir wissen, daß Gespenster nicht von Natur aus böse sind
- tatsächlich haben die meisten von uns schon von einem Fall
oder Fällen gehört oder gelesen, bei denen Gespenster recht
hilfreich waren; der Schemen, der Tante Clarissa sagte, sie
solle das Flugzeug nicht nehmen, oder der Großpapa Vic
warnte, möglichst schnell nach Hause zu gehen, weil das
Haus in Flammen stand. Meine Mutter hat mir gesagt, daß
ein Freund von ihr nach einem beinahe tödlichen Herzanfall
im Krankenzimmer Besuch von Jesus Christus bekam. Jesus
machte nur die Tür von Emils Zimmer in der Intensivstation
auf und fragte ihn, wie es ihm ging. Emil sagte, wie sehr er
Angst hatte, es wäre aus mit ihm, und ob Jesus gekommen
sei, ihn mitzunehmen. »Noch nicht«, sagte Jesus und lehnte
sich beiläufig an die Tür. »Du hast noch sechs Jahre vor dir.
Entspanne dich.« Dann ging er. Emil erholte sich. Das war
1953; ich hörte die Geschichte von meiner Mutter um 1957.
Emil starb 1959 - sechs Jahre nach seinem Herzanfall.
Ich hatte sogar in meinem eigenen Werk schon Probleme
mit »guten Geistern«; am Ende von The Stand kehrt Nick Andros, eine Person, die früher bei einer Explosion getötet
wurde, wieder zurück, um dem zurückgebliebenen, aber gütigenTom Cullen zu sagen, wie er Stu Redman, den Helden des
Romans, versorgen muß, nachdem dieser ernsthaft an Lungenentzündung erkrankt ist. Aber für den Horror-Roman
muß das Gespenst böse sein, und als Folge dessen finden wir
uns an einer vertrauten Stelle wieder: Wir untersuchen den
Konflikt zwischen Apollinischem und Dionysischem und halten nach dem Mutanten Ausschau.
In Ghost Story wird Don Wanderley von vier alten Männern gerufen, die sich selbst die Altherrengesellschaft nennen. Dons Onkel, das fünfte Mitglied, starb im Jahr zuvor
während einer Party für die geheimnisvolle Schauspielerin
Ann-Veronica Moore scheinbar an einem Herzanfall. Wie bei
allen guten Schauerromanen, wäre eine Zusammenfassung
der Handlung über diese Ausgangssituation hinaus ungerecht
- nicht weil der Veteran unter den Lesern dieses Stoffes viel
Neues finden würde (es wäre überraschend, wenn er, sie oder
wir es tun würden, wenn man sich Straubs Ansicht vor Augen
hält, möglichst viele
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