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dark canopy

Titel: dark canopy Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Benkau
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vollkommen still. »Der gute Neél«, säuselte sie dann. »Verlass dich besser nicht auf seine Versprechen, Mädchen. Die hält er nicht immer.«
    »Was meinst du damit?«
    »Ach.« Sie schien plötzlich am anderen Ende des Raumes zu sein, denn ihre Stimme erreichte mich wie von vielen Wänden zurückgeworfen. »Das solltest du doch am allerbesten wissen.«
    Was meinte sie damit? Doch zum Fragen blieb mir keine Zeit.
    »Komm zu mir!«, rief sie und klang plötzlich viel weniger frostig. »Ich lehre dich, im Dunkeln zu sehen. Wenn du es lernen willst, dann komm her. Ansonsten geh, verschwinde, das wäre mir ohnehin am liebsten.«
    »Vergiss es.« Ungelenk tastete ich mich mit Händen und Füßen voran.
    »Warte!«, rief Alex. »Hör erst zu.« Sie schnalzte mit der Zunge, gab kleine, zügig aufeinanderfolgende Klicklaute von sich. Sollten das Morsezeichen sein?
    »Wir Blinden sehen wie Fledermäuse. Mit unseren Ohren. Jeder Laut, den du entlässt, stößt irgendwann auf ein Hindernis und kommt zu dir zurück. Hör genau hin, dann hörst du alles, was dir im Weg steht.« Wieder schnalzte sie und ich registrierte, wie sie sich von links nach rechts bewegte. »Versuch es. Komm zu mir.«
    Ich schnalzte, lauschte, schnalzte und lauschte. Das war doch Unsinn. Wenn die Schnalzechos wirklich anders klangen, sobald sie auf ein Hindernis trafen, dann spielte sich das in Frequenzen ab, die ich nicht wahrnahm. Meine Sohlen tappten hilflos über den Stein. Mit dem Kopf knallte ich an einen Balken und das Knie stieß ich mir an der Kante einer mit Eisen beschlagenen Truhe. Ich warf etwas um, vermutlich einen Stuhl, und prallte gegen einen Tisch. Eine Vase kippte, rollte langsam über das Holz und ging schließlich mit einem Klirren auf dem Boden zu Bruch. Verdammt, hatten die hier mit Absicht alles vollgestellt?
    Als Alex ihr »Komm zu mir« wiederholte, packte mich der Frust, denn ihre Stimme kam aus der vollkommen falschen Richtung. Ich fluchte und sie lachte erneut ihr schadenfrohes Kieselsteinlachen.
    »So wird das nichts«, sagte sie, plötzlich wieder dicht bei mir. »Du stellst dich fürchterlich an.«
    Warum hatte ich das Gefühl, dass sie gar nicht das Blindekuh-Spiel meinte?
    »Du trampelst herum, machst alles kaputt und es stört dich noch nicht einmal. Spürst du denn gar nichts?«
    »Ich weiß es nicht«, zischte ich. »Ich weiß überhaupt nichts mehr. Weder was ich spüren noch was ich denken soll. Und vor allem weiß ich nicht, was ich dir eigentlich getan habe.«
    »Was meinst du? Du hast mir überhaupt nichts getan«, erwiderte sie betont harmlos.
    »Willst du abstreiten, dass du mir von Anfang an misstraut hast?«
    »Vertraust du denn irgendwem?«
    Ich ignorierte ihren Einwand - das stand hier nicht zur Debatte. »Und erst recht weiß ich nicht, was ich hier hören soll. Das alles hat doch überhaupt keinen Si-« Ich wollte mir die Binde vom Kopf ziehen, aber Alex fing meine Hand ab. Wider Willen beeindruckte mich ihre Genauigkeit.
    »Bist du wirklich vollkommen blind?« Die Frage war schneller aus meinem Mund, als meine Manieren eingreifen konnten.
    »Offenbar nicht ganz so blind wie du«, erwiderte sie kühl.
    »Was meinst du?«
    »Stellst du dich dümmer, als du bist, oder weißt du es wirklich nicht?«
    »Ich weiß nicht einmal, wovon du redest.«
    Darauf schwieg sie eine Weile, dann folgte ein heller, kurzer Seufzer, der nach »Was soll’s?« klang.
    »Die Laute«, erklärte Alex, »sind individuell zu wählen. Ich nutze das Schnalzen, andere machen einen Klacklaut in der Wange oder pfeifen. Ein Typ, mit dem ich mal im Bett war, ruft ›Katzenkacke‹, um sich zu orientieren, aber ich glaube, bei dem ist mehr kaputt als nur die Augen. Probiere es aus. Sende unterschiedliche Laute in unterschiedliche Richtungen, gegen eine Wand aus Stein, ein Fenster aus Glas, gegen etwas Großes, gegen etwas Kleines, gegen dicke, weiche Menschen und harte, raue Bäume. Finde den Laut, mit dem du die Unterschiede hörst.« Von einem auf den anderen Moment schwang ihre Stimme um. Es wäre zu viel gewesen, ihren Tonfall als freundlich zu bezeichnen, aber er war gefärbt von einer klaren Sachlichkeit.
    »Was ist?«, fragte sie.
    Hatte ich unbemerkt durchgeatmet oder las sie meine Gedanken? »Nichts, ich will mich bloß konzentrieren.«
    »Das ist gut. Du musst hören. Aber auch riechen, die Erde fühlen, den Wind schmecken. Und dann besitzen wir noch unsere Intuition. Dein Körper spürt vieles, ohne dass du dir dessen bewusst

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