Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

dark canopy

Titel: dark canopy Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Benkau
Vom Netzwerk:
geschmeidig und seine Oberarme glänzten leicht von geschmolzenen Schneeflocken.
    Wie lange wir reglos standen, ich fliehen wollte und er mich nicht ließ, weiß ich nicht. Aber plötzlich nickte er kaum wahrnehmbar und seine Lippen bewegten sich lautlos.
    »Lauf.«
    Ich schoss los. Er ebenso.
    Er machte es schnell, was mir Atem sparte. Es dauerte keine fünf Sekunden, bis er mich seitlich aus zwei Metern Entfernung ansprang und durch die Wucht umriss. Wir gingen zu Boden, rollten ineinander verkeilt durch Schnee und Feuchtigkeit und Dreck. Ich krallte beide Hände in sein Gesicht, zerkratzte ihm die Nase. Meine Daumen suchten seine Augen, um sie in die Höhlen zu pressen, bis die Augäpfel platzen würden wie pralle Früchte. Ich knurrte Worte, die ich selbst nicht verstand.
    Ich wollte doch bloß in den beschissenen Wald!
    Meine Knie trafen ihn in die Eier, meine Finger rissen an seinen Haaren. Ich holte mit dem Kopf aus und donnerte ihm die Stirn ins Gesicht, erwischte aber nur seinen Kiefer statt der Nase. Ich wütete, erfüllt von Zorn und Hass und Verzweiflung, sodass nichts anderes mehr Platz in mir hatte.
    Und doch überwältigte er mich. Ich spürte es gar nicht, registrierte nicht, wie er den Kampf entschied. Ich merkte nur, dass ich irgendwann auf dem Rücken lag. Schwarzer Schnee rieselte in mein Blickfeld und füllte es immer weiter aus. Meine Arme waren so schwer, dass beim Versuch, sie anzuheben, bloß meine Finger zuckten. Der Percent hockte auf mir, presste meine Schultern mit seinen Knien auf den Boden und drückte mir mit einer Hand die Kehle zu. Mit der anderen rieb er sich über die Stirn, kontrollierte, ob Blut dran haften blieb. Seine Mundwinkel zuckten, als er sah, dass ich ihm tiefe Striemen ins Gesicht gezogen hatte. Ich schloss die Augen, wartete darauf, dass er mich erwürgte, mir den Schädel einschlug oder was auch immer er vorhatte.
    Stattdessen sagte er: »Sieh mich an.« Ich gehorchte. »Das war besser. Nicht gut, aber besser. Gehen wir.«
    Und dann stand er auf, machte einen Schritt zurück und wartete, bis ich mich aufgerappelt hatte. »Das Seil«, verlangte er. Mit tauben Händen wickelte ich es ab und gab ihm das Ende. Er nickte, wandte sich ab und ich sah nur noch seinen Rücken.
    Wir gingen den gleichen Weg zurück, den wir gekommen waren. Ich bemerkte die höhnischen Blicke der Torwächter, aber sie schienen dem Percent zu gelten, nicht mir. Dabei hatte er nur ein paar Schrammen. An meinem Körper gab es kaum eine Stelle, die nicht wehtat. Menschen, die uns sahen, schauten schnell weg, zogen den Kopf zwischen die Schultern und trollten sich. Immer noch tropfte Blut aus meiner Nase. Meine Seele lag in Trümmern. Ich fühlte keine Erniedrigung mehr, keine Scham und keine Angst.
    Es war vorbei - das perverse Training und meine Hoffnung, entkommen zu können - und das erleichterte mich. Man fühlt sich unweigerlich erleichtert, wenn nur noch Leere zurückbleibt.
    Naturgesetz. Das Nichts wiegt weniger als alles andere.
    Er brachte mich zum Gefängnis zurück. PRIS N stand über dem breiten Haupteingang. Einer der geschmiedeten Buchstaben war abgefallen.
    Ich zog eine Blutspur vom Eingang bis zu den Duschen, wo Neél wie am Tag zuvor vor dem Sichtschutz stehen blieb, während ich mich dahinter waschen musste. Es dauerte ewig, bis das Wasser, das an meinem Körper herabrann, nicht mehr braun oder rosa war, sondern klar blieb. Sein Blut, das in dunklen Halbmonden unter meinen Fingernägeln getrocknet war, trieb mich schier in den Wahnsinn. Ich kratzte mit allen Fingern an der Seife, aber es blieb hartnäckig an mir kleben und löste sich erst nach mehreren Versuchen. Als ich mich endlich sauber fühlte, wickelte ich mich in ein Tuch und schlurfte mit dem Percent zu meiner Zelle zurück. Er ließ mich ein, schlug die Tür zu und ich war allein. Der Schlüssel klapperte im Schloss.
    Es gelang mir noch, trotz Erschöpfung, Kleidung aus dem Schrank zu nehmen und anzuziehen. Um meine Wunden zu schonen, setzte ich mich ganz vorsichtig auf meine Pritsche. Träge wie eine von Alter und Gicht geplagte Frau. Schon versanken meine Erinnerungen im Schlaf. Ich konnte mich später nicht mehr erinnern, den Kopf aufs Kissen gelegt zu haben.

12
    matthial? der bin ich nicht länger.
will ich nicht länger sein.
    Er war ein Gespenst. Der Tag lief an ihm vorbei oder er am Tag.
    Im Clan ging jeder seinen Pflichten nach. Matthial wurde von den meisten ignoriert, von einigen beinahe behandelt, als sei alles

Weitere Kostenlose Bücher