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Dark City - Das Buch der Prophetie (German Edition)

Dark City - Das Buch der Prophetie (German Edition)

Titel: Dark City - Das Buch der Prophetie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Damaris Kofmehl , Demetri Betts
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Knie.
    «Ihr habt genau eine Minute, mein Söhnchen. Wenn ich in einer Minute nicht das erste Ticken höre, wisst Ihr, was geschieht.»
    Miro starrte zu Katara hinüber. Er kannte sie nicht einmal, und jetzt hing ihr Leben von ihm ab. Wie krank musste ein Gehirn sein, um sich so etwas Grauenvolles auszudenken? Die Klinge von Shonovans Messer ruhte an ihrem schlanken Hals. Wenn Miro scheitern sollte, würde sie sterben. Liovan hatte sich zur Kommode begeben, die Alte nickte ihm zu, und bevor Miro irgendetwas dagegen unternehmen konnte, drehte dieser die Sanduhr um.
    «Der Sand läuft», sagte die Schwarze. «Ihr habt eine Minute.»

    Eine Minute, dachte Miro. Du hast eine Minute! Er sprang auf, eilte mit dem Wecker zum Küchentisch und ließ seinen Blick über die vielen kleinen Teilchen gleiten, die vor ihm lagen. Dann schweiften seine Augen zu Katara, von Katara hinüber zur Sanduhr, von der Sanduhr zurück zum Wecker in seinen Händen. Seine Hände zitterten. Sein Mund war trocken. Schweißperlen traten auf seine Stirn.
    «Ich kann das nicht», flüsterte er und zeigte der Alten wie zum Beweis seine zitternden Hände, «ich kann es nicht.»
    Die pummelige Schwarze legte den Kopf schief und schwieg. Liovan stand mit verschränkten Armen neben der Sanduhr, Shonovan hielt Katara das Messer an den Hals, und Katara starrte Miro in rasender Panik an.
    Miro versuchte sich zu konzentrieren. Du kannst das, sprach er sich selbst Mut zu. Es muss möglich sein. Es muss einfach.
    Schon als kleiner Junge hatte er mit Leichtigkeit jedes Puzzle zusammengesetzt, das ihm vor die Nase kam. Seine Freunde waren immer verblüfft gewesen, wie rasch er die Lücken füllte und Puzzleteile aneinanderreihte, wo eines wie das andere aussah.
    «Wie machst du das nur?», wurde er häufig gefragt.
    «Ich sehe es», antwortete Miro einfach.
    «Aber wie?»
    «Wenn ich etwas bewusst betrachte, dann kann ich es mir merken, ganz egal, was es ist, ein Bild, eine Zahl, eine Form. Ich kann mir alles einprägen.»
    «Für wie lange?»
    «Für immer.»
    Sein fotografisches Gedächtnis wurde immer ausgeprägter. Er lernte ganze Bücher auswendig, einfach indem er Seite um Seite in seinem Gehirn abspeicherte. Er wagte sich an immer kompliziertere Aufgaben, versetzte alle Professoren in Erstaunen. Er übersprang mehrere Klassen, und seine Privatlehrer fanden bald keine Rätsel mehr, die der clevere Junge nicht zu lösen vermochte. Er sonnte sich in seiner Intelligenz wie ein König und hatte das Gefühl, auf alle Fragen eine Antwort zu haben. Er war ein Genie und benahm sich oft herablassend gegenüber durchschnittlich begabten Menschen.
    Doch all seine Arroganz und Überheblichkeit schrumpfte in der Stube dieser alten Frau auf ein einziges Wort zusammen, das mit keiner Intelligenz der Welt auszuschalten war: Angst.
    Mit zitternden Fingern klaubte Miro ein kleines Zahnrädchen vom Tisch. Der Schweiß rann ihm von der Stirn. Er drehte und wendete das Rädchen zwischen den Fingern und betrachtete es von allen Seiten.
    «Es ist bloß ein Wecker», murmelte er zu sich selbst. «Du hast schon andere Geräte repariert. Reiß dich zusammen! Merk dir die Form! Es ist wie ein Puzzleteil, nur dreidimensional. Such das Gegenstück. Du hast es schon hundertmal gemacht.»
    Ja, hörte er eine Stimme in sich aufkeimen, hundertmal schon. Aber nicht mit einer Sanduhr im Rücken, die bereits zur Hälfte durchgelaufen ist. Und erst recht nicht mit einer Geisel, deren Leben von deinem Geschick abhängt. Das schaffst du nie!
    «Ich muss es schaffen», flüsterte Miro und wischte sich mit dem linken Arm den Schweiß von der Stirn. «Konzentrier dich, Miro. Konzentrier dich! Nur nicht die Nerven verlieren!»
    Er packte mit der einen Hand den Wecker, hielt mit der anderen das winzige Zahnrädchen fest und suchte nach einer Stelle, wo er es einfügen könnte. Tatsächlich fand er ein kleines vorstehendes Metallteilchen, an dem sich das Rädchen befestigen ließ. Doch der Junge machte sich keine Illusionen. Zwei Drittel des Sandes waren bereits durch den Glaskolben gelaufen. Und mindestens zwanzig Einzelteile lagen noch auf dem Küchentisch. Selbst wenn er alle Teile in den verbleibenden Sekunden an die richtige Stelle setzen würde, war deswegen keineswegs garantiert, dass der Wecker wieder ticken würde. Aber wenn er nicht in zwanzig Sekunden tickte … Miro weigerte sich, daran zu denken.
    Bring ihn zum Ticken, dachte er, während er das nächste Teilchen einsetzte. Bring ihn zum

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