Dark City - Das Buch der Prophetie (German Edition)
vibrierte. Sie atmete in unregelmäßigen Stößen.
Liovan und Shonovan lösten das straffe Tuch um Miros Mund, und in einer eigenartigen Mischung aus Angst und Kühnheit platzte es sogleich aus ihm heraus:
«Bei Shaíria, ich verlange, dass Ihr uns sofort freilasst!»
Die dicke schwarze Frau legte ihren Zeigefinger auf den Mund und lächelte. «Immer mit der Ruhe, Kindchen», flüsterte sie. «Immer mit der Ruhe.»
«Ihr wisst nicht, mit wem Ihr Euch anlegt», entgegnete Miro und reckte sein Kinn. «Mein Vater ist Lord Jamiro. Und wenn Ihr mir auch nur ein Haar krümmt …»
«Dass Ihr hier sitzt, war nicht meine Entscheidung, Miro», stellte die Frau gelassen fest. «Es wurde bereits vor Eurer Geburt so vorherbestimmt.»
Miros Atem ging heftig. Seine Brust wölbte sich. «Wer seid Ihr?»
«Es kommt darauf an, wen Ihr fragt», antwortete die Alte ruhig. «Fragt Ihr Drakar, so würde er zweifelsohne sagen, ich sei eine Hexe. Fragt ihr Liovan, Shonovan, Ishavan oder Anovan, so werden sie Euch zur Antwort geben: Sie ist eine Prophetin.» Sie flüsterte das Wort nur, doch ihre Augen weiteten sich, und für den Bruchteil einer Sekunde schien etwas Geheimnisvolles in ihnen aufzuflammen. Dann watschelte die dicke Frau in ihren zu großen Pantoffeln gemächlich auf Miro zu und zupfte an seinen feuerroten Haaren herum.
«Aber das ist nicht entscheidend, mein Söhnchen. Die entscheidende Frage ist: Wer seid Ihr? »
«Wer ich bin?» Miro plusterte sich auf wie ein stolzer Pfau. «Jeder weiß, wer ich bin: Ich bin der Erbe Lord Jamiros. Und Ihr werdet eine Menge Ärger mit meinem Vater kriegen, das verspreche ich Euch, Hexe.»
Er sprach das letzte Wort so abfällig aus, wie es ihm nur möglich war. Doch erstaunlicherweise schien dies das Mütterchen keineswegs aus der Ruhe zu bringen.
«Hmm», machte sie stattdessen, trat einen Schritt zurück und musterte den schlanken Jungen mit seinem weißen Satin-Hemd, seinem schicken Anzug aus schwarzem Baumwollsamt, seiner klassisch geraden Nase, dem goldenen Ohrring und dem hochgestylten Haar eine Weile nachdenklich.
«Ihr wisst nicht, wer Ihr seid», stellte sie dann leise fest. «Und solange die Lüge Euch verblendet, kann die Wahrheit nicht in Euer Herz dringen.»
Sie wandte sich einem der Männer zu, ohne ihre Augen von Miro weggleiten zu lassen. «Shonovan. Wärt Ihr so freundlich und würdet mir den kaputten Wecker herbringen? Und bitte legt alle Teile auf den Küchentisch zurück.»
Shonovan, wie ihn die Frau genannt hatte, nickte schweigend und begab sich zum Küchentisch.
«Ach, und Liovan, seid so gut und werft einen Blick auf die Kekse im Ofen. Ich möchte nicht, dass sie anbrennen.»
Die beiden blonden Männer taten, wie ihnen befohlen war, und die gefesselten Jugendlichen verfolgten alles mit wachsender Unruhe.
Was um alles in der Welt wird hier gespielt?, dachte Miro.
Liovan schaute nach den Keksen, und Shonovan klaubte geduldig jedes Rädchen, Schräubchen, Spirälchen und Mütterchen vom Boden, legte die Teile auf den Küchentisch und brachte seiner Herrin das kaputte Gehäuse des Weckers.
Sie hielt den Wecker vor Miro hoch. «Ich möchte, dass er wieder tickt, mein Söhnchen», sagte sie.
Miro lächelte. «Ihr habt ihn selber kaputt gemacht», entgegnete er schnippisch, ohne zu verstehen, worauf die Frau hinauswollte.
«Ich möchte, dass Ihr ihn wieder zum Ticken bringt, mein Söhnchen.»
«Ich? Warum ich?»
«Weil Ihr es könnt, Miro.»
Sie sagte es mit einer solchen Überzeugung, dass Miro sich doch ziemlich wunderte.
«Habt Ihr mich deshalb verschleppen lassen? Dass ich Eure kaputten Geräte wieder instand setze? Das ist doch absurd.»
«Ich will, dass er wieder tickt», wiederholte die Alte zum dritten Mal. «Und Ihr seid der Einzige, der dazu imstande ist, ihn wieder zum Ticken zu bringen.»
«Und was gebt Ihr mir dafür?», fragte Miro kühn.
Die Alte lächelte geheimnisvoll. «Ich schenke Euch Eure Freiheit.»
Der Junge war ziemlich perplex von ihrem großzügigen Angebot. «Ihr macht Witze. Niemand würde seinen Hals riskieren, um jemanden wie mich zu kidnappen, nur damit ich einen lächerlichen Wecker zum Ticken bringe.»
«Das ist richtig, mein Söhnchen», bestätigte die dicke schwarze Frau, und Miro wunderte sich immer mehr über die Alte.
«Und warum tut Ihr es dann? Wo liegt der Haken?»
«Ich möchte es einfach so. Ihr bringt meinen Wecker zum Ticken, und ich lasse Euch frei.»
Miro musterte die Frau skeptisch. Er traute
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