Dark Inside (German Edition)
sein oder ein paar Hundert.«
»Auf keinen Fall.« Billy schnappte sich die Karte. »Keiner von diesen Orten hier ist mehr als ein paar Kilometer von uns entfernt. So weit oben im Norden sind wir doch gar nicht. Wir sind immer noch in der Zivilisation. Hier kann man ja nicht mal spucken, ohne gleich einen Taco Bell zu treffen.«
Michael warf einen Blick auf die Mutter, die hinter ihnen auf dem Boden saß, den Kopf des Kindes auf ihren Oberschenkel gebettet. Der Junge – Michael hatte vergessen, wie er hieß – hatte schon eine ganze Weile nicht mehr die Augen aufgemacht. Sein Atem ging flach über die blau verfärbten Lippen und die Brust hob und senkte sich kaum merklich unter dem Hemd. Das Gesicht war leichenblass, die Augen lagen tief in den Höhlen. Das arme Kind wog vermutlich nur so viel wie ein kleines Tier. Sicher, sie hatten alle abgenommen und die meisten von ihnen würden vermutlich alles tun, um einen Hamburger zu bekommen, doch das hier war etwas anderes. Es war ein Kind. Kinder sollten keinen Hunger haben.
Und Kinder sollten auch nicht wissen, dass es Ungeheuer tatsächlich gab.
Auch die Mutter sah nicht gut aus. Blonde, verfilzte Haare, die wohl schon lange nicht mehr gebürstet worden waren. Sie sah erschöpft aus. Verbraucht. Die Sonne stand zwar noch am Himmel, doch ihre Strahlen konnten ihre Haut nicht wärmen. Leise sang sie ihrem Sohn etwas vor, ein Lied, das Michael zum letzten Mal als Kleinkind gehört hatte. Den Text konnte er kaum verstehen.
Eigentlich hätte sie gar nicht singen sollen. Ihre Stimme machte vielleicht die Falschen auf sie aufmerksam. Doch Michael brachte es nicht übers Herz, es ihr zu verbieten. Es war vielleicht das letzte Mal, dass das Kind ihre Stimme hörte.
Niemand will allein in die Dunkelheit gehen.
»Also gut.« Er wandte sich wieder Evans und Billy zu. »Wir machen es. Holt die anderen!«
Sie waren insgesamt zu zwölft. Michael und Evans hatten sich der Gruppe vor zwei Wochen angeschlossen, damals bestand sie nur aus fünf Leuten. Inzwischen hatten sie noch einige andere aufgelesen. Die Mutter und ihr Sohn waren zuletzt dazugekommen. Und jetzt war die Gruppe so groß, dass es Probleme gab. Es stimmte nicht, dass man zu mehreren sicher war, es führte nur dazu, dass man immer mehr Leute im Auge behalten musste. Eine größere Gruppe bedeutete, dass man mehr zum Essen brauchte. Es bedeutete auch, dass man lauter war.
Doch Michael gefiel es, zu einer Gruppe zu gehören. Es gab ihm das Gefühl, gebraucht zu werden. Er mochte es, Teil eines Größeren zu sein. So war er eben. Wenn es brenzlig wurde, war er selbstbewusst und stark. Sein Vater sagte immer, Michael sei die geborene Führungspersönlichkeit, und wenn er jetzt da wäre, wäre er sicher stolz darauf, wie gut Michael zurechtkam. Und es bestand immer noch die Möglichkeit, dass sich sein Vater irgendwo in Denver versteckt hatte. Er wusste eine Menge über Überlebensstrategien. Michael klammerte sich an den Gedanken, dass sie sich eines Tages wiedersehen würden, und er freute sich darauf, seinem Vater zu erzählen, wie gut er die Situation gemeistert hatte. Schließlich war er der Anführer ihrer Gruppe, obwohl er jünger als die meisten anderen war. Evans war mindestens vierzig. Billy war dreißig, wirkte wegen seiner fehlenden Zähne aber älter.
Michael war siebzehn, doch wenn die anderen Antworten haben wollten, fragten sie ihn. Er hatte es nicht so geplant. Es war einfach passiert.
Er stand auf und verzog das Gesicht, als seine Knie knackten. Er hatte zu lange auf dem Boden gesessen. Er ging zu der Mutter hinüber und kniete sich neben sie. Warum konnte er sich nicht an den Namen des Kindes erinnern? Eigentlich sollte er sie ja danach fragen, aber er wollte sich nicht die Blöße geben. Es war ihm irgendwie peinlich, dass er sich als Anführer die Namen der Gruppenmitglieder nicht merken konnte.
»Hallo.« Er sprach leise.
Sie hörte zu singen auf und hob den Kopf. Ihr Blick ging an ihm vorbei ins Leere. Erst als sie mehrmals geblinzelt hatte, gelang es ihr, ihm ins Gesicht zu sehen. Ihre Augen waren strahlend blau, doch sie wirkte verwirrt.
»Wir werden uns jetzt das Haus ansehen«, sagte er. »Willst du mitkommen? Du kannst hierbleiben, aber ich halte es für besser, wenn wir zusammenbleiben. Ich kann dir helfen. Brauchst du Hilfe? Ich kann ihn tragen.«
Er streckte die Arme aus, doch sie wich zurück und drückte ihr Kind an sich. »Nein«, murmelte sie. »Er bleibt bei mir. Glaubst du,
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