Dark Inside (German Edition)
sie brauchte. »Los jetzt!« Zum Glück fing Colin nicht an, mit ihr zu diskutieren.
Sie rannten durch die Korridore und hatten das Theater schon fast erreicht, als die Schreie begannen.
»Das ist Becka«, rief Joy.
Sie blieben stehen und warteten, wie erstarrt und unsicher, was sie jetzt tun sollten. Die Schreie gingen weiter, eine halbe Ewigkeit lang, wie ihnen schien, und hörten dann abrupt auf. Stille erfüllte die Korridore und legte sich schwer wie Blei auf Aries’ Schädel. Sie konnte nicht sprechen; die Zunge klebte ihr an den Zähnen. Sie spürte, wie Jacks Körper von hinten gegen sie stieß, die Muskeln hart und angespannt,
»Was sollen wir jetzt tun?«, fragte er.
»Wir müssen weg«, erwiderte Aries.
»Und was ist mit Becka und Amanda?«, flüsterte Joy. Kaum hatte sie die Worte ausgesprochen, fing sie auch schon an, rückwärtszugehen, weg vom Theater.
»Wir können ihnen nicht mehr helfen«, wisperte Aries.
Sie hörten ein knarrendes Geräusch, als die Tür zum Theater aufgestoßen wurde. Schritte hallten auf dem Fliesenboden.
»Lauft!«, schrie Jack.
Sie rannten los.
NICHTS
Ich kann sie spüren. Alle. Ihre Gedanken. Ihre Stimmen, die mir ins Ohr flüstern. Ich höre ihre Gebete, und ihre Qualen fahren durch meinen Körper wie eine Million Volt.
Ich kenne ihre Verbrechen.
Sie werden dafür sorgen, dass ich jedes einzelne davon mit ansehe.
In New York blockiert ein Hausmeister sämtliche Ausgänge eines Apartmenthauses und stellt den Strom ab, bevor er es in Brand setzt. Er geht den ganzen Vormittag von einem Gebäude zum nächsten und zündet jedes einzelne an. Mehrere Menschen sterben, bevor sein eigenes Feuer für ihn zur Falle wird und er in der Explosion stirbt.
In Houston brechen Hunderte von Häftlingen aus einem Gefängnis aus und ziehen in einem blutigen Amoklauf durch die Straßen. Die Polizei ist nicht in der Lage, die Menschen zu schützen, vor allem, da viele der Beamten ihre Waffen ziehen und auf unbeteiligte Passanten schießen.
In Barcelona geht ein Priester mit einer Waffe in der Hand in eine Kirche und tötet sämtliche Besucher des Morgengottesdienstes.
Bei Unruhen in London fließt mehr Blut auf das Kopfsteinpflaster der Stadt, als Jack the Ripper sich das je hätte träumen lassen.
Eine junge Erzieherin in einem Kindergarten in Toronto verabreicht ihren Schützlingen eine tödliche Mischung aus Arsen und Früchtepunsch. Als sie für kurze Zeit wieder klar denken kann und begreift, was sie getan hat, trinkt sie mit zwei Schlucken das, was noch übrig ist.
Das Spiel ist aus.
Überall auf der Welt bringen sich die Menschen gegenseitig um. Brüder gehen auf ihre Schwestern los. Eltern töten ihre Kinder. Es gibt keine Erklärung, die man verstehen könnte. An den wenigen Orten, wo die Medien noch funktionieren, haben sie keine Antworten dafür.
Aber ich weiß, warum.
Ich kann es nicht ausblenden. Sie haben ihre Klauen in meinen Schädel geschlagen. Es gibt keinen Ort auf dieser Welt, an dem ich mich verstecken könnte, denn sie wissen, wo sie mich finden werden. Für sie ist es ganz einfach. Sie haben den Schlüssel zu meinem Gehirn, sie saugen meine Gedanken heraus und ersetzen sie durch ihre.
Bis vor Kurzem war ich, glaube ich, normal. Ich hatte eine Mutter.
Jetzt würde sie eine Menge Kerzen anzünden müssen, um meine Seele zu retten.
Irgendwo in der Dunkelheit taucht ein Gedanke auf. Eine flüchtige Erinnerung. Ich sehe weißen Sand, der sich in alle Richtungen erstreckt; weiter, als mein Blick reicht. Vor mir ein blaues Meer. Es ist riesengroß, aber ich bin sehr klein. Ein Kind, nicht älter als drei oder vier vielleicht. Ich halte Eimerchen und Schaufel fest, während meine Eltern eine Decke über den weißen Sand breiten, der unter meinen Füßen brennt.
Mein Vater ruft nach mir.
Meine Mutter lächelt.
Sie sieht so glücklich aus.
Und dann ist alles wieder weg.
Ich will diese Erinnerungen an mich reißen und festhalten. Ich habe Angst, dass sie für immer verloren sind, wenn sie jetzt verschwinden.
Es muss eine Möglichkeit geben, sich dagegen zu wehren. Die schwarzen Gedanken auszusperren und dafür zu sorgen, dass die Stimmen verstummen. Doch mit jeder Erinnerung, die ich verliere, wächst ihre Macht über mich. Bald wird der Mensch, der ich war, der ich noch bin, verschwunden sein. Ich werde leer sein.
Ich bin nicht der Erste und ich werde auch nicht der Letzte sein.
Es gibt so viele leere Leute auf diesem kleinen Planeten. Einsame Leute.
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