Dark Love
ihm seinen Teller. Er sah aus, als wüsste er nicht recht, was er davon halten sollte.
»Was soll das?«, flüsterte er, als Mum gerade nicht hinsah.
»Ich zeige dir, wie man überzeugend heuchelt«, flüsterte ich zurück. »Falls du es doch noch nach St. Arkadien schaffst.«
Sein finsterer Blick versüßte mir das Frühstück ungemein.
Kurz vor zehn machte er sich bereit, um wieder in die Schule zurückzukehren. Meine Mutter wartete an der offenen Tür, um ihn zu verabschieden. Die Straße draußen war noch immer voller Menschen.
»Meine Güte«, kommentierte sie.
»Dreckige Landstreicher«, schnaubte Isambard.
Ich starrte ihn ungläubig an. Vielleicht hatte er das Wesentliche noch nicht begriffen. »Isambard, ein paar dieser Menschen sind hundertmal reicher als wir.«
Er erwiderte meinen Blick. »Tja, aber jetzt sind sie dreckige Landstreicher«, entgegnete er trocken und gehässig. Da begriff ich, wie sinnlos es war, mit ihm zu streiten. Ich konnte meine Energien wirklich besser nutzen.
Als Mum gerade die Tür schließen wollte, sahen wir sie. Eine elektrische Kutsche in emailliertem Blau und Silber schob sich langsam durch die Menschenmenge. Ich trat vor und wir betrachteten das Gefährt prüfend, um herauszufinden, ob er es auch wirklich war. Und tatsächlich erkannte ich den Schimmer blonder Haare durch die getönten Fensterscheiben. »Das ist Mr. Allister.«
Mum schloss die Tür und schleifte mich praktisch ins Wohnzimmer. Sie musterte mich noch einmal kritisch und zupfte alles zurecht, dann riss sie ein Buch aus dem Schrank und warf es mir vor die Brust.
»Uff! Mum!«
»Hinsetzen. Lesen.« Damit hastete sie zurück zur Tür.
Ich tat, was sie befohlen hatte, und zählte langsam bis zehn.
Vielleicht fünf Minuten später klopfte es. Meine Mutter strich sich ihr eigenes, schlichtes Kleid glatt, wartete noch weitere quälende fünfzehn Sekunden und öffnete die Tür. »Ah, der junge Mr. Allister! Wie schön, Sie zu sehen.«
Ich hörte auch seine Erwiderung. »Guten Morgen, Mrs. Roe. Ich hoffe, ich störe nicht.«
»Ganz und gar nicht. Bitte, kommen Sie herein.« Als ich seine Schritte in der Diele hörte, musste ich wieder daran denken, wie schrecklich aufgeregt ich unter normalen Umständen gewesen wäre, wenn Michael Allister mein Haus betreten hätte. Heute aber konnte ich nur mit Mühe genug Kraft zusammenkratzen, um ein Lächeln zustande zu bringen.
Als er das Wohnzimmer betrat, erhob ich mich und knickste. »Mr. Allister, wie geht es Ihnen?«
Er verbeugte sich. Sein grauer Anzug saß perfekt und das Grün seiner Krawatte passte genau zu seinen Augen. »Sehr gut, Miss Roe, wie geht es Ihnen?«
»So gut es unter den Umständen möglich ist.« Ich setzte mich wieder und meine Mutter tat es mir nach, was auch ihm die Erlaubnis dazu gab. Er wählte einen Sitzplatz mir gegenüber, am anderen Ende des Sofas. Mein Rock verbarg das kleine Loch, das ich in den Bezug gebohrt hatte.
»Ich hoffe, Sie hatten auf der Straße keine Probleme«, sagte meine Mutter.
»Ich glaube, momentan gibt es auf der Straße nichts anderes als Probleme«, entgegnete er und sah zum Fenster. Unser Wohnzimmer ist etwas schäbig, aber sauber. Die Wände sind in einem verblichenen Blau gestrichen und der Kamin mitsamt vollgestelltem Sims ist direkt in die Wand eingelassen. »Geht das hier so, seit unsere Truppen eingetroffen sind?«
»Ja, gestern hat es begonnen.« Meine Mutter strich die Schürze über ihrem Kleid glatt. »Unser Stadtteil liegt den Elysischen Gefilden am nächsten, also kommen vermutlich auch alle hier durch.«
»Ah«, sagte er verständig. Etwa eine Minute lang hörte man nur das Ticken der Standuhr, bevor er weitersprach. »Gut, dass Miss Dearly das nicht mit ansehen muss.«
»Nein, das ist nicht gut«, erwiderte ich. Michael und meine Mutter sahen mich irritiert an. »Ich meine … dann wäre sie jetzt hier«, erklärte ich.
»Ah«, sagte Michael noch einmal. Der Klang seiner Stimme verriet mir, dass er mir da nicht ganz zustimmte.
Ich schluckte und redete weiter. »Aber solange sie es nicht ist … nun ja … besteht immerhin noch Hoffnung.«
Michael griff in seinen samtenen Gehrock und zog ein Taschentuch hervor, auf das in dunklem Blau seine Initialen gestickt waren. Ich schüttelte den Kopf und atmete tief durch, auch wenn meine Wangen brannten. »Es geht schon, Sir.«
»Es wäre eine große Ehre für mich, wenn Sie es annehmen würden«, sagte er und hielt mir das Taschentuch
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