Dark Love
Geschichten kursierten. Am schlimmsten waren die der Flüchtlinge aus den Elysischen Gefilden. Angeblich hatte irgendjemand irgendwann davon erzählt, dass die Infizierten Menschen angriffen und deren Fleisch fraßen. Glücklicherweise verbot Mutter Isambard, solche Texte laut vorzulesen.
Mein Vater, der die Gerüchte in seiner Bäckerei aufschnappte, war der Meinung, dass solche Hirngespinste das Ergebnis der Massenhysterie waren, was bedeutete, dass alle gleichzeitig ein wenig verrückt wurden. Das wäre eine Erklärung. Aber etwas sagte mir, dass ich in jedem Fall die Ohren offen halten sollte.
Am nächsten Morgen durfte ich das Haus verlassen, weil wir Lebensmittel brauchten und Isambard behauptete, es ginge ihm nicht gut. Ich vermutete eher, dass er die ganze Nacht aufgeblieben und unter der Decke SMS verschickt hatte, aber ich beklagte mich nicht, da ich unbedingt etwas frische Luft brauchte.
Meine Mutter sorgte dafür, dass ich ihre lange schwarze Mantille und einen schwarzen Spitzenschleier trug, um den Schein zu wahren. Der Himmel war grau und ich glaubte, Schnee in der Luft zu riechen. In New London schneite es nur sehr selten und wenn es einmal vorkam, machte es alle nervös.
In den Straßen wimmelte es von Flüchtlingen. Einige suchten nach Arbeit, andere nach einem Ort, an dem sie bleiben konnten. Ein paar von ihnen liefen einfach herum, weil sie nicht wussten, wohin sie gehen sollten. Ein gequälter Ausdruck lag in ihren Augen. Es war unheimlich, mich zwischen diesen Menschen hindurchdrängen zu müssen, die alle mit ihren eigenen Dämonen kämpften und mich kaum bemerkten.
Ich kaufte alles, was wir brauchten, auf einem kleinen Markt, der nur einen Block von unserem Haus entfernt lag. Ich bemerkte, dass die Händler den Flüchtlingen argwöhnische Blicke zuwarfen, und fragte mich, wie viel Einfluss Geschichten wohl hatten und wie viel Schaden sie anrichten konnten.
Als ich das letzte in Papier gewickelte Paket in meinen Korb legte, wollte sich Ebenezer Coughlin gerade in einer Ecke niederlassen. Mr. Coughlin war ein äußerst talentierter Straßenmusikant mit kaffeebrauner Haut. Er spielte auf einem flachen Instrument, über das kreuz und quer Saiten gespannt worden waren, eine Kreation aus dem Hause Mink. Die Familie Mink war für ihre Saiteninstrumente berühmt.
Mit einer schlangenförmigen Bewegung zog er einen Bogen darüber und mischte die Klänge zu einem einzigen lieblichen Akkord. Ich hielt vor ihm an und knickste. »Guten Morgen, Mr. Coughlin.«
Er legte den Bogen auf dem Instrument ab und tippte sich an den Hut. Er hatte nur einen Arm. »Morgen, Miss Roe.«
Ich sah mich um. Unter den Markisen der Stände, die noch nicht geöffnet hatten, scharten sich die Flüchtlinge. »Spielen Sie heute?«
Er zuckte die Schultern und stellte seinen Hut vor sich auf. »Ist wohl das Beste. Gerade heute braucht die Welt noch ’n bisschen mehr Musik als sonst, würd ich sagen. Vielleicht beruhigt’s die Leute ’n wenig.«
Ein leichtes Lächeln stahl sich auf mein Gesicht. »Ein weiser Gedanke, Sir.«
»Na, ich hab diese ganzen grauen Haare ja schließlich auch nicht umsonst.« Damit setzte er sich hin und begann zu spielen. Ich legte das Geld, das von meinem Einkauf übrig war, in seinen Hut und machte mich auf den Heimweg.
Als ich zu Hause ankam, war Isambard schon auf dem Weg zur Schule. Mum nahm mir den Korb ab, stellte ihn dann beiseite und hielt mich am Arm. Die Mantille glitt von meiner Schulter.
»Und jetzt putzen wir dich heraus.«
»Herausputzen?«
»Ja, für den Besuch des jungen Mr. Allister.«
Tausende von Worten jagten mir durch den Kopf, doch ich brachte nur eines heraus. »Oh.« Zwanzig Minuten später stand ich wieder in dem Lavendelkleid in meinem Zimmer, während meine Mutter den Stoff in adrette Falten legte und mein Haar in Form brachte. Ich schloss die Augen und versuchte, mich ganz auf das schöne Gefühl ihrer vertrauten Hände zu konzentrieren, doch ich konnte meine Gedanken nicht ausschalten.
»Bist du aufgeregt, weil er kommt?«, fragte ich leise.
Ich öffnete die Augen. Mum hatte innegehalten, die Hände noch an meinem Haar. Ich konnte ihren Gesichtsausdruck nicht deuten. »Warum fragst du das?«
»Weil … ich wissen möchte, was von mir erwartet wird. Du hast mir schon einmal gesagt, dass ich mich auf solche Dinge vorbereiten soll, aber es ist alles so verwirrend.« Ich konnte es genauso gut einmal aussprechen.
Sie seufzte und ließ mich los. Dann
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