Dark Love
nervös ich war und dass ich beinahe nur ein paar Meter vor meiner eigenen Haustür von einem fremden Irren entführt worden wäre.
Als ich schließlich vor der Türe meiner Tante stand, wollte ich alles lieber, als einen Streit zu beginnen.
Ich klopfte.
»Herein.«
Ich betrat das Zimmer, knickste und murmelte ein steifes »Guten Abend, Tante Gene«.
Die geschiedene Mrs. Genevive Ortega saß an ihrem Frisiertisch und gab ihrem Erscheinungsbild den letzten Schliff. Der Rock ihres eisblauen Abendkleides wallte über den Boden hinter ihr und ihr ergrauendes Haar verschlang sich zu einer eleganten Hochsteckfrisur. Sie war eine attraktive Frau, doch um Mund und Augen lag eine Härte, die ihr Bruder nicht besessen hatte. Sie sprach wie mein Vater mit dem runden, etwas steifen Akzent des hohen Nordens.
»Ahh, Nora. Wie war die Fahrt?«
»Lang.«
»Das tut mir leid.« Nachdem sie einen letzten Pinselstrich Rouge aufgetragen hatte, drehte sie sich um und musterte mich. »Du hast dich noch nicht umgezogen?«
»Wir sind gerade erst angekommen.«
»Nun, das solltest du sofort in Ordnung bringen. Du hast ja noch nicht einmal deinen Mantel abgelegt. Hat Matilda den Verstand verloren?«
Um jede weitere Diskussion zu vermeiden, zog ich den Mantel aus und legte ihn mir über den Arm. Ich spürte Tante Genes prüfenden Blick auf mir. »Wo um Himmels willen hast du nur dieses Kleid her?«
Ich zuckte die Schultern. »Es hing in meinem Schrank in der Schule.«
Tante Gene atmete tief durch und sprach in einem langsamen, belehrenden Ton weiter, als rede sie mit einer Schwachsinnigen. »Das ist ein Herbstkleid, meine Liebe. Und es ist ganz offensichtlich schon einige Jahreswechsel her, dass es für dich gemacht wurde.«
Ich zwang mich zu einem Lächeln und versuchte, es so gehässig aussehen zu lassen wie das von Vespertine. »Merkwürdig, wie das so geht, wenn man in Trauer ist.«
Tante Gene erhob sich und kam zu mir. Da sie nicht länger an ihrem Frisiertisch saß, schlossen sich seine Schubladen automatisch und die elektrischen Kerzen, die ihr das nötige Licht gespendet hatten, verschwanden wieder in der Wand. »O ja. Was das angeht, es wäre doch eine nette Geste, wenn du deine Trauerkleidung einpacken und sie an deine kleine Freundin Miss Roe weitergeben würdest. Jemand ihres Standes kann sicher mehr mit Schwarz anfangen … es ist außerordentlich kleidsam.«
So viel zum Thema Streit vermeiden. Ich erkannte eine Kriegserklärung, wenn ich eine hörte.
»Also, wie ich dir in meinem letzten Brief mitgeteilt habe, werde ich heute Abend auf Bertha Cotneys Ball gehen. Es wird spät werden. Aber natürlich wird Matilda hier sein, um dir zu helfen.«
»Natürlich.« Ich holte Luft, dann fragte ich: »Und du hältst es für unbedingt nötig, auf diesen Ball zu gehen?«
Tante Gene fixierte mich. Auch sie verstand genau, wohin das führte. »Wie du selbst soeben erwähnt hast, liebe Nichte, sind wir nicht länger in Trauer.«
»Seit gerade einmal ein paar Stunden, Tante. Verzeih mir, aber man könnte unterstellen, du hättest die Minuten gezählt.«
Tante Genes Lippen wurden schmal. »Es gehört sich nicht für ein Kind, so mit seiner Tante zu sprechen. Dein Vater würde sich für dich schämen.«
Der Zorn, der in meiner Brust geschwelt hatte, loderte auf, auch wenn ich mein Bestes tat, um die Fassung zu bewahren. »Sieh mal, Tante Gene, als ich gestern deinen Brief bekommen habe, hatte ich ernsthaft vor, dir bei meiner Ankunft eine Szene zu machen, um sein Andenken zu verteidigen. Aber ich bin müde und nicht gerade bester Laune und außerdem bist du nun mal mein Vormund … deshalb bin ich bereit, einen Waffenstillstand einzuhalten, damit du dich so ehrlos benehmen kannst, wie du nur willst. Das ist es doch, was du willst.«
Sie ohrfeigte mich.
Ich funkelte sie an und brachte die Sache auf den Punkt. »Es ist erst ein Jahr her, dass er gestorben ist.«
»Und es war ein verschwendetes Jahr«, fauchte Tante Gene.
»Du …«
»Still, du dumme Göre. Du hast ja keine Ahnung.« Ihre Hände ballten sich zu Fäusten und ihre Stimme wurde bedrohlich leise. »Dein Onkel hat mich ein Jahr vor dem Tod deines Vaters verlassen. Seit zwei Jahren nehme ich schon nicht mehr am gesellschaftlichen Leben teil. Zwei Jahre. In dieser Zeit sind viele gute Partien geschlossen worden. Ehen, die mich hätten einschließen können.«
»Ist das wirklich das Einzige, an das du denken kannst?«, fragte ich, während ich meine Wange
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