Dark one 03 - Kuesst du noch oder beisst du schon- neu-ok
Vermutlich habe ich deshalb keine Angst mehr vor dir, du böser, böser
Verräter!“
„Das ist
nicht der Grund“, entgegnete er knapp. Ich konnte sein Gesicht nicht sehen,
weil sich eine Wolke vor den Mond geschoben hatte, doch wir hatten inzwischen
den Stadtrand erreicht, und ich würde schon bald erkennen können, ob seine
Miene genauso grimmig wie seine Stimme war. „Es ist etwas viel Schlimmeres.“
„Etwas
Schlimmeres? Wovon redest du?“
Er gab keine
Antwort. Unser - ohnehin schon stockendes -Gespräch verlief vollends im Sande,
als wir einen kleinen Hügel hinaufliefen, hinter dem das Stadtzentrum lag.
„Nell“,
sagte er eine Weile später, als wir einen dunklen Platz überquerten. „Du...“
„Oh, sieh
mal, der Bahnhof. Da kannst du bestimmt ein Auto mieten. Und da gibt es
wahrscheinlich auch etwas zu essen. Ich sterbe vor Hunger. Komm mit!“
„Nell.“ Er
packte mich mit seinen Schraubzwingen-Händen am Arm und zog mich an sich. Für
die wenigen Leute, die an uns vorbeifuhren, sahen wir wahrscheinlich aus wie
ein Liebespaar, das es kaum erwarten konnte, nach Hause zu kommen. „Denk immer
daran, dass du meine Gefangene bist! Und vergiss niemals, dass ich eine
gefährliche Kreatur der Finsternis bin. Ich bin ein Mörder, ein Verräter, ein
Mann ohne Seele, der ohne zu zögern jeden vernichtet, der sich ihm in den Weg
stellt.“
Ich sah ihm
ins Gesicht, auf das der bläulich weiße Lichtschein einer Straßenlaterne fiel.
Der Ausdruck in seinen Augen jagte mir einen Schauder über den Rücken. Sie
waren eisblau und ohne Hoffnung. Ohne groß darüber nachzudenken, was ich tat,
strich ich ihm sanft über die Wange. In seinem Inneren herrschte Finsternis,
eine tiefe, überwältigende endlose Finsternis, und da, wo seine Seele hätte
sein sollen, klaffte ein großes Loch. Ich wollte diese Leere füllen, die
Finsternis in Hoffnung und Liebe und Glück verwandeln. Ich begriff instinktiv,
dass ich den Fluch, der auf ihm lastete, brechen und ihn von seinen Qualen
befreien konnte, aber um das zu tun, hätte ich auf jenen Teil meines
Bewusstseins zugreifen müssen, den ich zehn Jahre zuvor um ein Haar zerstört
hatte.
Auf den Teil
meines Bewusstseins, durch den eine unschuldige Frau ums Leben gekommen war.
„Es tut mir
leid“, sagte ich leise und senkte den Kopf, während sic6h meine Stimme wie ein
Dunstfetzen in der kalten Nachtluft verlor. „Ich kann es nicht. Ich darf so
etwas nie wieder tun.“
Seine Augen
wurden dunkler und ich spürte, wie er in meinen Kopf vordrang. Ich wandte mich
von ihm ab, als hätte ich so verhindern können, dass er die Wahrheit erfuhr.
Ich hatte zwar zu keinem Zeitpunkt angenommen, dass ihm die leicht hängenden
Züge meiner linken Gesichtshälfte und die eingeschränkte Tauglichkeit meiner
Gliedmaßen auf der linken Seite entgangen war, doch er hatte nicht danach
gefragt, und ich hatte von mir aus nichts dazu gesagt.
„Was
verbirgst du vor mir?“
Ich
erstarrte. Was für eine große Schuld ich auf mich geladen hatte, wollte ich auf
keinen Fall preisgeben. Er packte mich an den Schultern und drehte mich zu
sich, um mich mit misstrauischem Blick zu mustern. „Ich kann nicht zu dem
vordringen, was du verbirgst. Was ist das für ein Geheimnis, das dich mit so
viel Grauen erfüllt?“
Ich atmete
tief durch und versuchte mein plötzlich viel zu schnell schlagendes Herz zu
beruhigen. Er strich so zärtlich mit dem Daumen über meine Halsschlagader, dass
ich fast zu seinen Füßen dahingeschmolzen wäre.
„Du bist
hier nicht der einzige Verräter“, sagte ich schließlich.
„Wer...“,
setzte er an, hielt jedoch abrupt inne und hob den Kopf, als wittere er
irgendetwas. „ Do prdele !“
Ich sah mich
um, entdeckte jedoch nichts, was ihn aufgeschreckt haben könnte. Wir standen
auf dem dunklen Marktplatz. In den Fenstern der Häuser ringsum brannte nur hier
und da noch Licht, obwohl es erst kurz nach neun war. Ein paar Autos fuhren an
uns vorbei, aber Fußgänger waren keine zu sehen. Etwas Bedrohliches war
nirgendwo auszumachen.
„Was ist
los?“
„Geh!“ Er
schob mich von sich weg. Auf der anderen Seite des Platzes war der Bahnhof. Ich
hatte ihn schon auf der Autofahrt mit Melissande gesehen.
Melissande!
Ich hatte nicht mehr an sie gedacht, seit ich darüber gegrübelt hatte, ob sie
wohl wusste, dass ich entführt worden war. Sie verließ sich doch bestimmt
darauf, dass mich zumindest meine Gier nach dem Brustpanzer davon abhielt, sie
im Stich zu lassen.
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