Dark Places - Gefährliche Erinnerung: Thriller (German Edition)
habt ihr mit dem Baby gemacht?«
Mir war mulmig, ich fühlte mich fiebrig. Wenn das Baby überlebt hätte, wäre es jetzt (wäre er jetzt, wäre sie jetzt) wie alt? Vierundzwanzig. Das Baby wäre längst kein Baby mehr. Ich versuchte, mir einen erwachsenen Menschen vorzustellen, aber mein Hirn sprang immer wieder zurück auf das Bild eines in eine Decke gewickelten Säuglings. An meinem nächsten Geburtstag würde ich zweiunddreißig – so alt war meine Mom gewesen, als man sie umgebracht hatte. Sie war mir so erwachsen vorgekommen. Erwachsener, als ich je sein würde.
Wenn das Baby überlebt hatte, war es jetzt vierundzwanzig. Auf einmal überfiel mich eine meiner schrecklichen Visionen, und ich sah vor mir, was hätte sein können. Wir zu Hause in Kinnakee, alle noch am Leben. Im Wohnzimmer Michelle, die ihre Brille auf der Nase hin und her schiebt und eine ganze Rasselbande von Kindern herumkommandiert, die zwar die Augen verdrehen, aber trotzdem tun, was sie ihnen sagt. Debby, rundlich und geschwätzig, mit einem großen blonden Farmer als Ehemann – im Farmhaus gibt es natürlich ein Extrazimmer für ihre Basteleien, vollgepackt mit Bändern und Quiltflicken und Klebertuben. Meine Mom, Mitte fünfzig, die Haut gegerbt von Sonne und Wind, die Haare fast ganz weiß, wie sie sich freundlich mit Diane streitet, genau wie früher. Und dann kommt Bens Baby herein, eine Tochter, rothaarig, Anfang zwanzig, schlank und selbstbewusst, ums Handgelenk klappernde Armreifen, eine College-Studentin kurz vor dem Abschluss, die uns alle nicht für voll nimmt. Ein Day-Mädchen.
Ich verschluckte mich an meinem eigenen Speichel, fing an zu husten, und meine Luftröhre machte dicht. Die Besucherin zwei Kabinen weiter beugte sich besorgt zu mir herüber, aber als sie sah, dass ich nicht abkratzen würde, wandte sie sich wieder ihrem Sohn zu.
»Was ist in der Nacht passiert, Ben? Ich muss das wissen. Ich muss es einfach wissen.«
»Libby, du kannst dieses Spiel nicht gewinnen. Wenn ich dir sage, ich bin unschuldig, dann heißt das, du bist schuldig und hast mir mein ganzes Leben versaut. Und wenn ich dir sage, ich bin schuldig … macht das vielleicht irgendwas besser für dich?«
Er hatte recht. Das war ja einer der Gründe, warum ich mich so viele Jahre nicht gerührt hatte. Also versuchte ich etwas anderes: »Und was ist mit Trey Teepano?«
»Mit Trey Teepano?«
»Ich weiß, dass er Wetten angenommen und bei diesem Teufelsscheiß mitgemischt hat, dass er dein Freund war und in dieser Nacht mit dir zusammen rumgezogen ist. Und mit Diondra. Das klingt nicht besonders toll.«
»Woher hast du das denn alles?« Ben sah mir in die Augen, dann wanderte sein Blick nach oben, starrte lange auf meinen roten Haaransatz, der mir jetzt schon bis zu den Ohren ging.
»Dad hat es mir erzählt. Er hat gesagt, er hat Trey Teepano Geld geschuldet und …«
»Dad? Jetzt ist er plötzlich
Dad?
«
»Runner hat gesagt …«
»Runner hat überhaupt nichts gesagt. Du musst endlich erwachsen werden, Libby. Du musst dich für eine Seite entscheiden. Du kannst nicht den Rest deines Lebens damit verbringen, dass du versuchst herauszufinden, was damals passiert ist. Du musst dir endlich selbst vertrauen. Entscheide dich. Komm auf meine Seite. Das ist besser.«
Ben Day
2 . Januar 1985
22 Uhr 23
S ie fuhren aus der Stadt, aus der Asphaltstraße wurde eine Art Feldweg, und Ben wurde so auf dem Rücksitz herumgeschleudert, dass er die Hände gegen das Autodach presste, um sich festzuhalten. Er war stoned, richtig stoned, seine Zähne klapperten, sein ganzer Kopf klapperte mit.
Ist bei dir eine Schraube locker?
Es mussten mindestens zwei oder drei sein. Aber er wollte nur schlafen. Erst etwas essen, dann schlafen. Langsam verblassten die Lichter von Kinnakee, und dann sah man nur noch Schnee, meilenweit, glänzender blauer Schnee, ein Grasfleck hier, eine unregelmäßige Zaunnarbe dort, aber in erster Linie Schnee, eine Mondlandschaft. Als wäre man wirklich im Weltraum, verloren auf einem fremden Planeten, und würde nie mehr nach Hause kommen.
Sie bogen auf einen anderen Weg ein, Bäume saugten sie von allen Seiten auf, wie ein Tunnel, und Ben merkte, dass er keine Ahnung hatte, wo sie waren. Er hoffte nur, dass das, was nun passieren sollte, möglichst schnell vorbei sein würde. Er sehnte sich nach einem Hamburger. Seine Mom machte total verrückte Hamburger, die sie Resteburger nannte, billiges Hackfleisch, aufgemotzt mit Zwiebeln
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