Dark Places - Gefährliche Erinnerung: Thriller (German Edition)
überfiel sie unerwartet, ein plötzlicher Ruck, wie wenn einem der Wind beim Fahren die Haare ins Gesicht blies.
»Sagst du diesen Leuten bitte, dass Ben so was nie tun würde?«, bat Patty, und auf einmal kamen die Tränen, und im Nu waren ihre Wangen nass.
»Ich kann allen Leuten in Kinnakee sagen, allen im Staat Kansas, dass Ben so was nie tun würde, und trotzdem können sich solche Gerüchte halten. Ich weiß nicht. Ich weiß nicht. Gestern Nachmittag hab ich es gehört, aber anscheinend wird das Gerede … stärker, lauter. Ich war schon kurz davor herzufahren. Dann habe ich den Rest der Nacht damit verbracht, mir gut zuzureden, dass nichts dran ist. Aber dann bin ich heute früh aufgewacht und habe gemerkt, dass sehr wohl etwas dran ist.«
Dieses Gefühl war Patty vertraut. Ein Traum-Kater. Wenn sie zum Beispiel morgens um zwei hochschreckte und sich einzureden versuchte, dass mit der Farm alles in Ordnung war und sich dieses Jahr alles bessern würde, dann fühlte sie sich ein paar Stunden später, wenn der Wecker klingelte, umso schlechter, schuldbewusst und betrogen. Erstaunlich, dass man mitten in der Nacht stundenlang so tun konnte, als wäre alles okay, und bei Tageslicht innerhalb von dreißig Sekunden wusste, dass es nicht so war.
»Dann bist du mit den Lebensmitteln und dem Stickeralbum rübergekommen, und die ganze Zeit wolltest du mir nur von diesem
Gerücht
erzählen?«
»Wie gesagt …« Diane zuckte mitfühlend die Achseln und spreizte die Finger, außer den beiden, zwischen denen die Zigarette klemmte.
»Und was sollen wir jetzt machen? Weißt du die Namen dieser Mädchen? Wird mich jemand anrufen oder mich ansprechen oder mit Ben darüber reden wollen? Ich muss ihn holen.«
»Wo ist er denn?«
»Das weiß ich nicht. Wir hatten Streit. Wegen seinen Haaren. Er ist mit dem Fahrrad abgehauen.«
»Was ist das für ein Ding mit den Haaren?«
»Ich weiß es nicht, Diane! Was spielt das denn jetzt überhaupt noch für eine Rolle?«
Aber natürlich wusste Patty, dass es eine Rolle spielte. Alles würde jetzt auf mögliche Bedeutungen durchsiebt und analysiert.
»Na ja, ich glaube nicht, dass es sich um einen Notfall handelt«, meinte Diane leise. »Ich glaube nicht, dass wir ihn jetzt sofort nach Hause holen müssen, es sei denn, du möchtest das.«
»Ja, ich möchte, dass er sofort nach Hause kommt.«
»Okay, dann fangen wir an, die Leute anzurufen. Du kannst mir eine Liste seiner Freunde geben, dann häng ich mich ans Telefon.«
»Ich weiß nicht mal mehr, mit wem er befreundet ist«, erwiderte Patty. »Er hat heute Morgen mit jemandem geredet, wollte aber nicht sagen, mit wem.«
»Dann drücken wir doch einfach mal auf die Wiederwahltaste.«
Knurrend trat Diane die Zigarette mit dem Stiefelabsatz aus, zog Patty aus ihrem Stuhl hoch und führte sie ins Haus zurück. Als die Tür zum Mädchenzimmer vorsichtig einen Spaltbreit geöffnet wurde, wurden die Mädchen sofort angeblafft, sie sollten gefälligst bleiben, wo sie waren, dann marschierte Diane weiter zum Telefon, wo sie mit ihrem breiten Finger auf die Wiederwahltaste drückte. Singsang-Nummerntöne quäkten aus dem Hörer, aber noch ehe es anfing zu klingeln, legte Diane wieder auf.
»Das ist meine Nummer.«
»O ja. Ich hab nach dem Frühstück angerufen, weil ich wissen wollte, wann du kommst.«
Die beiden Schwestern saßen am Tisch, und Diane goss Kaffee nach. Der Schnee leuchtete von draußen in die Küche wie ein Stroboskop.
»Wir müssen Ben nach Hause holen«, sagte Patty.
Libby Day
Jetzt
V erträumt wie ein Grundschulkind, in Gedanken noch ganz bei Ben, fuhr ich heim. Seit ich sieben war, hatte ich immer dieselben Geisterhaus-Bilder von meinem Bruder im Kopf: Ben, wie er Debby den Korridor hinunterjagt, schwarzhaarig, das Gesicht ausdruckslos, die Axt fest im Griff, auf den zusammengepressten Lippen ein sonderbares Summen. Ben, wie er, schreiend, über und über mit Blut bespritzt, das Gewehr an die Schulter reißt.
Ich hatte vergessen, dass es eine Zeit gab, in der er einfach nur Ben war, schüchtern und ernst, mit verwirrenden Humorausbrüchen. Einfach nur mein Bruder Ben, der nicht getan haben konnte, was man von ihm behauptete. Was ich von ihm behauptete.
An einer Ampel griff ich, zitternd vor Aufregung, hinter meinen Sitz nach dem Umschlag einer alten Rechnung. Über das durchsichtige Fenster schrieb ich
Verdächtige
. Dann schrieb ich
Runner.
Und hielt inne.
Jemand mit einem Hass auf Runner?,
schrieb
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