Dark Places - Gefährliche Erinnerung: Thriller (German Edition)
sobald er genug Zuneigung bekommen hatte – und das passierte ziemlich schnell –, wurde er plötzlich schlaff und stellte sich praktisch tot, bis man ihn endlich losließ. Patty war mit ihm beim Arzt gewesen, weil ihr das Verhalten ihres Sohnes so seltsam erschien, aber Ben saß nur steif und mit verkniffenem Mund da, ein stoischer kleiner Junge mit einer verstörenden Fähigkeit, sich von allem zurückzuziehen. Sogar dem Arzt schien es unheimlich zu werden – er bot dem Kleinen einen billigen Lutscher an und sagte Patty, sie sollte in sechs Monaten zurückkommen, wenn Ben sich dann immer noch so verhielt. Und Ben veränderte sich nie.
»Na ja, launisch ist kein Verbrechen«, sagte Patty. »Runner war auch launisch.«
»Runner ist ein Arschloch, das ist nicht das Gleiche. Ben hatte schon immer diese Reserviertheit an sich.«
»Na ja, er ist fünfzehn«, begann Patty, stockte aber gleich. Ihr Blick fiel auf ein Glas mit alten Nägeln, das auf dem Regal stand und wahrscheinlich seit der Zeit ihres Vaters nicht mehr angefasst worden war. Auf dem Etikett, einem Stück Klebeband, stand in seiner langen, aufrechten Handschrift
Nägel
.
Die Garage hatte einen ölverschmierten Betonboden, der noch kälter war als die Luft. In einer Ecke stand ein alter Wasserbehälter, in dem das Wasser gefroren war und die Plastiknähte gesprengt hatte. Neben Dianes Rauch bildete die Atemluft dicke Wolken. Trotzdem war Patty hier seltsam ruhig und zufrieden, zwischen all den Dingen, die sie sich in den Händen ihres Vaters vorstellen konnte: Rechen mit verbogenen Zinken, Äxte in verschiedenen Größen, Regale mit Gläsern voller Schrauben, Nägel und Unterlegscheiben. Sogar eine alte Eistruhe aus Metall, unten rostverfleckt, in der ihr Dad immer sein Bier gekühlt hatte, wenn er sich hier Baseballspiele im Radio anhörte.
Es ging ihr auf die Nerven, dass Diane so wenig sagte, denn für gewöhnlich war Diane immer gern bereit, ihre Meinung zu äußern, selbst wenn sie eigentlich gar keine hatte. Aber noch entnervender fand Patty die Tatsache, dass Diane regungslos dasaß und nichts zu tun gefunden hatte, dass sie nichts auf- oder umräumte. Denn Diane war eine Frau der Tat, sie saß eigentlich nie nur herum und redete.
»Patty, ich muss dir was erzählen, was mir zu Ohren gekommen ist. Mein erster Impuls war, dir nichts davon zu sagen, weil das Gerücht natürlich nicht wahr ist. Aber du bist seine Mutter, und … ach Mist, keine Ahnung, du solltest es einfach wissen.«
»Okay.«
»Hat Ben jemals mit den Mädels auf eine Art gespielt, dass man falsche Schlüsse daraus ziehen könnte?«
Patty starrte sie an.
»Auf eine Art, die andere auf falsche Gedanken bringen könnte … Gedanken sexueller Natur?«
»Ben
hasst
die Mädchen«, stieß Patty halb erstickt hervor. Sie war selbst überrascht, wie erleichtert sie sich fühlte. »Er will so wenig wie möglich mit ihnen zu tun haben.«
Diane zündete sich die nächste Zigarette an und nickte kurz. »Na ja, okay, gut. Aber da ist noch etwas. Ein Freund hat mir nämlich erzählt, dass sich jemand in der Schule über Ben beschwert hat, weil angeblich ein paar kleine Mädchen – in Michelles Alter – darüber geredet haben, sie hätten ihn geküsst oder angefasst oder irgendwas. Vielleicht auch Schlimmeres. Was ich gehört hab, war jedenfalls schlimmer.«
»Ben? Dir ist doch klar, dass das völlig irre ist.« Patty stand auf. Sie wusste nicht, was sie mit ihren Armen und Beinen anfangen sollte, drehte sich schließlich nach rechts und dann schnell wieder nach links, wie ein irritierter Hund, und setzte sich wieder. An ihrem Stuhl zerriss ein Band.
»Ja, ich weiß, dass es irre ist. Oder ein Missverständnis.«
Das war das Schlimmste, was Diane hätte sagen können. Als sie es hörte, wusste Patty, dass sie genau das befürchtet hatte. Dieser Bodensatz einer Möglichkeit – ein
Missverständnis
– konnte dazu führen, dass etwas anderes daraus wurde. Aus einem Kopftätscheln wurde ein Rückenstreicheln, wurde ein Kuss auf die Lippen, und das ganze Dach stürzte ein.
»Ein Missverständnis? Ben würde einen Kuss nicht missverstehen. Oder eine Berührung. Nicht bei einem kleinen Mädchen. Er ist nicht pervers. Er ist ein seltsamer Junge, aber er ist nicht krank. Er ist nicht verrückt.« Patty hatte ihr Leben lang abgestritten, dass Ben seltsam war, und immer behauptet, er wäre ein ganz normaler Junge. Aber jetzt gab sie sich mit »seltsam« zufrieden. Die Erkenntnis
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