Dark Places - Gefährliche Erinnerung: Thriller (German Edition)
Ben und die Nacht damals sprechen muss? Wenn er mir einen Termin sagt, kann ich runterkommen und ihn besuchen.«
»Okay … über Ben und die Nacht damals wollen Sie mit ihm sprechen, richtig?«
»Genau.«
Ich war mir sicher, dass Lyle auf meinen Meinungsumschwung in puncto Ben – meinen halbmöglichen, potentiellen Meinungsumschwung – mit einer mir unerträglichen Selbstgefälligkeit reagieren würde, und konnte mir lebhaft vorstellen, wie er in einem seiner sonderbaren engen Jäckchen dastand und den Kill-Club-Groupies erzählte, wie er mich überredet hatte, Ben zu besuchen. »Anfangs hat sie sich strikt geweigert, weil sie Angst hatte, was sie über Ben rausfinden würde … und über sich selbst.« Und alle Groupies würden an seinen Lippen hängen und wären überglücklich über die Leistung, die er vollbracht hatte. Das irritierte mich ohne Ende.
Der Mensch, mit dem ich sprechen wollte, war Tante Diane. Diane, die sich zehn Jahre lang um mich, die minderjährige Waise, gekümmert hatte. Sie hatte mich als Erste aufgenommen und mich mit meinem Koffer voller Habseligkeiten in ihren Wohnwagen verfrachtet. Klamotten, ein Lieblingsbuch, aber keine Spielsachen, denn Michelle hatte nachts immer alle Puppen gehortet – sie nannte das ihre Schlummerparty –, und als sie erwürgt worden war, auf sie gepinkelt. Ich erinnere mich noch an ein Stickeralbum, das Diane uns am Tag der Morde mitgebracht hatte – Blumen und Einhörner und Kätzchen –, und habe mich immer gefragt, ob es auch bei den ruinierten Sachen war.
Eine neue Wohnung konnte Diane sich nicht leisten. Das Geld aus der Lebensversicherung meiner Mutter ging dafür drauf, Ben einen einigermaßen anständigen Anwalt zu bezahlen. Diane meinte, dass meine Mutter es bestimmt so gewollt hätte, aber sie sagte das mit einem Gesicht, als würde sie ihrer Schwester in diesem Punkt gern widersprechen. Jedenfalls war für uns kein Geld da, und ich war so klein, dass ich in der Abstellkammer schlafen konnte, wo eigentlich der Platz für Waschmaschine und Trockner war. Diane strich den Raum sogar für mich an. Sie arbeitete Überstunden, fuhr mich zur Therapie nach Topeka und versuchte, liebevoll zu mir zu sein. Aber ich merkte, dass es ihr wehtat, mich in den Arm zu nehmen – mich erbärmliche Erinnerung an ihre ermordete Schwester. Ihre Arme umschlossen mich wie ein Hula-Hoop-Reifen, als ginge es darum, sie um mich zu legen, mich dabei aber so wenig wie möglich zu berühren. Trotzdem sagte sie mir jeden Morgen, dass sie mich liebhatte.
Im Laufe dieser Zeit fuhr ich ihr Auto zweimal zu Schrott, brach ihr zweimal die Nase, stahl und verkaufte ihre Kreditkarten und brachte ihren Hund um. Die Sache mit dem Hund hatte das Fass schließlich zum Überlaufen gebracht. Diane hatte sich nicht lange nach den Morden einen wuschligen Mischling zugelegt und ihn Gracie getauft. Gracie war ein Kläffer, nicht größer als Dianes Unterarm, und Diane liebte ihn mehr als mich – jedenfalls hatte ich das Gefühl. Jahrelang war ich eifersüchtig auf den Hund, beobachtete, wie Diane Gracie bürstete, einen zarten rosa Plastikkamm in den großen, männlichen Händen, beobachtete, wie sie Haarspangen in sein wuschliges Fell steckte, beobachtete, wie sie ein Foto von Gracie statt einem von mir aus der Brieftasche zog. Der Hund war besessen von meinem Fuß, dem schlimmen, der nur noch zwei Zehen hatte, den zweiten und den kleinen, beides dünne, knorrige Gebilde. Ständig schnupperte der Hund an ihnen herum, als wüsste er, dass hier irgendetwas nicht stimmte. Damit schmeichelte sich das Tier natürlich nicht bei mir ein.
Als ich in einem Sommer aus irgendeinem Grund Hausarrest hatte und im brutheißen Wohnwagen bleiben musste, während Diane arbeitete, ging mir der Hund immer mehr auf die Nerven, und er wurde seinerseits immer aufgeregter. Da ich keine Lust hatte, ihn auszuführen, kurvte er hektisch zwischen Sofa, Küche und Kammer hin und her, zwickte mich in die Füße und kläffte ununterbrochen. Ich hatte mich auf dem Sofa zusammengerollt und tat, als würde ich eine Soap im Fernsehen anschauen, hegte und pflegte aber stattdessen hauptsächlich meinen Hass. Auf einmal hielt Gracie in ihrem hektischen Gerenne inne und biss zielsicher in den kleinen Zeh an meinem schlimmen Fuß, packte ihn einfach mit ihren ekligen Hundezähnen und rüttelte daran. Ich weiß noch, wie ich dachte:
Wehe, wenn dieser Köter mir meine letzten Zehen abbeißt
, und mich dann
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