Dark Places - Gefährliche Erinnerung: Thriller (German Edition)
ärgerte, weil ich so absurd aussah: An meiner linken Hand war ein Stummel, an den nie ein Mann einen Ehering stecken würde, und ohne entsprechende Einlagen hatte ich in dieser tief im Binnenland gelegenen Stadt für alle Zeiten einen Seemannsgang. In der Schule nannten die Mädchen meinen verstümmelten Finger gerne Kümmerling. Das war schlimm genug, denn es klang gleichzeitig süß und grotesk, etwas, über das man kichern und dann schnell wegschauen konnte. Vor kurzem hatte ein Arzt mir gesagt, die Amputationen wären wahrscheinlich gar nicht nötig gewesen. »Da war wohl ein übereifriger Landarzt am Werk.« Ich packte Gracie also um den Bauch, spürte ihre Rippen und spürte auch, wie das kleine Ding zitterte. Aber das Zittern machte mich nur noch wütender, und mit einer raschen Bewegung riss ich den Hund von meinem Zeh – das Fleisch nahm er mit – und warf ihn mit aller Kraft in Richtung Küche. Gracie knallte gegen die scharfe Kante der Anrichte, brach zuckend zusammen, und auf dem Linoleum bildete sich eine Blutpfütze.
Ich hatte Gracie nicht umbringen wollen, aber sie starb – nicht ganz so schnell, wie mir lieb gewesen wäre, aber innerhalb von zehn Minuten, in denen ich im Trailer herumtigerte und krampfhaft überlegte, was ich tun sollte. Als Diane mit dem Abendessen, einem Brathähnchen, nach Hause kam, lag Gracie noch auf dem Boden, und ich konnte nur stammeln: »Sie hat mich gebissen.«
Ich versuchte, noch mehr zu sagen, zu erklären, warum ich nicht schuld war, aber Diane hielt nur einen zitternden Finger in die Höhe:
Tu’s nicht!
Dann rief sie ihre beste Freundin Valerie an, eine Frau, die ebenso zart und mütterlich war wie Diane voluminös und schroff. Während Valerie den Hund in eine besondere Decke hüllte, stand Diane über die Spüle gebeugt und starrte aus dem Fenster. Dann verschwanden sie im Schlafzimmer, und als sie wieder herauskamen, teilte Diane mir mit, ich sollte meine Sachen packen. Valerie stand schweigend, verweint und händeringend neben ihr. Im Rückblick nehme ich an, dass Valerie und Diane eine Beziehung hatten – jeden Abend, wenn Diane ins Bett geklettert war, unterhielt sie sich bis zum Einschlafen mit ihr am Telefon. Sie berieten sich bei jeder Gelegenheit und hatten sogar beide den gleichen leicht gestuften superpraktischen Haarschnitt. Aber damals war es mir egal, welchen Platz Valerie bei Diane einnahm.
Die letzten beiden Jahre der Highschool wohnte ich bei einem sehr höflichen Paar in Abilene, die irgendwie weitläufig mit mir verwandt waren und die ich nur relativ sanft terrorisierte. Ab diesem Zeitpunkt telefonierte Diane alle paar Monate mit mir. Dann hörte ich zu, wie sie am anderen Ende der heftig rauschenden Leitung verraucht in den Hörer atmete, und stellte mir ihr Kinn neben der Sprechmuschel vor, den Flaum darauf, den Leberfleck neben der Unterlippe, eine fleischfarbene Scheibe, von der sie mir einmal erzählt hatte, sie könnte Wünsche erfüllen, wenn ich daran rieb. Wenn ich ein bestimmtes Knarren und Quietschen im Hintergrund hörte, wusste ich sofort, dass Diane den mittleren Schrank in der Küche ihres Wohnwagens öffnete. Ich kannte den Trailer besser, als ich das Farmhaus je gekannt hatte. Manchmal machten Diane und ich unnötige Geräusche, niesten oder husteten, und dann rief Diane: »Warte mal, Libby«, völlig unsinnig, weil sowieso keine von uns etwas gesagt hatte. Meistens war Valerie auch da, und sie unterhielten sich leise miteinander, Valerie mit einschmeichelnder Stimme, Diane in ihrem üblichen Grummelton, und dann gönnte Diane mir noch zwanzig Sekunden, ehe sie eine Ausrede erfand, um aufzulegen.
Als
Ein neuer Tag
herauskam, ging Diane nicht mehr ans Telefon, wenn ich anrief. Ihre einzige Reaktion war zu sagen:
Was in aller Welt hat dich dazu gebracht, so etwas zu tun
?, was bei Diane ziemlich affig klang, aber mich mehr verletzte als drei Dutzend Fuckyous.
Ich wusste, dass Diane unter der gleichen Nummer zu erreichen sein würde – sie würde niemals umziehen, der Trailer gehörte zu ihr wie das Schneckenhaus zur Schnecke. Nachdem ich zwanzig Minuten in den verschiedenen Stapeln, die im Haus herumlagen, gewühlt hatte, fand ich tatsächlich mein altes Adressbuch, das ich in der Grundschule bekommen hatte. Auf dem Einband war ein rothaariges Mädchen mit Rattenschwänzchen abgebildet – wahrscheinlich hatte mal jemand gedacht, dass es so aussah wie ich. Außer dem Lächeln. Dianes Nummer stand unter T für Tante
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