Dark Places - Gefährliche Erinnerung: Thriller (German Edition)
es wohl noch da stehen würde, ehe man es, weil Geld und Hoffnung aufgebraucht waren, wieder abnahm?
»O Gott, sie schon wieder«, sagte Lyle, als wir an Lisette vorbeifuhren. Etwas in mir sträubte sich, obwohl meine Gefühle ähnlich waren. Nach einer gewissen Zeit hatte es etwas Unverschämtes an sich, wenn man aufgefordert wurde, sich über jemanden Sorgen zu machen, der so eindeutig tot war. Es sei denn, es handelte sich um meine Familie.
»Also Lyle, kann ich dich mal fragen, was dich eigentlich so fasziniert an diesem … diesem Fall?« Im gleichen Moment, als ich das sagte, wurde der Himmel so dunkel, dass die Highway-Lichter angingen und in einer langen Reihe bis zum Horizont weiß zu glitzern begannen, als hätte meine Frage ihr Interesse wachgerufen.
Lyle starrte auf sein Bein und hörte mir wie üblich im Profil zu. Er hatte die seltsame Angewohnheit, demjenigen, mit dem er sprach, sein Ohr hinzustrecken, und dann wartete er erst mal ein paar Momente, als müsste er das, was gesagt worden war, mühsam in eine andere Sprache übersetzen.
»Es ist einfach ein klassisches Whodunit, zu dem es jede Menge plausible Theorien gibt. Deshalb ist es interessant, sich darüber auszutauschen«, antwortete er, ohne mich anzusehen. »Und dann du. Und Krissi. Zwei Kinder, die … die etwas ins Rollen gebracht haben. Das interessiert mich.«
»Kinder, die etwas ins Rollen gebracht haben?«
»Ihr habt damals etwas in Gang gesetzt, was euch über den Kopf gewachsen ist. Ihr habt ja nicht mit den Konsequenzen gerechnet. Welleneffekte. So was interessiert mich.«
»Warum?«
Er zögerte. »Einfach so.«
Bei Licht betrachtet waren wir beide überhaupt nicht dafür geschaffen, anderen Leuten Informationen aus der Nase zu ziehen. Unterentwickelte menschliche Wesen, die jedes Mal verlegen und hilflos wurden, wenn sie versuchten, sich auszudrücken. Allerdings war es mir ziemlich gleichgültig, ob wir aus Krissi viel herauskriegten, denn je länger ich über Lyles Theorie nachdachte, desto unsinniger kam sie mir vor.
Nach weiteren vierzig Minuten Fahrt fingen die Stripclubs an: trostlose, geduckte Betonklötze, die meisten ohne richtige Namen, nur Neonschilder, die
»Live Girls! Live Girls!«
schrien. Vermutlich jedenfalls ein besserer Verkaufsanreiz als
tote
Mädchen. Unwillkürlich stellte ich mir vor, wie Krissi Cates auf den kiesbestreuten Parkplatz einbog und sich bereit machte, in einem dieser Schuppen ihre Klamotten auszuziehen. Irgendwie hatte es etwas Beunruhigendes, dass die Etablissements nicht mal Namen hatten. Wenn ich Meldungen in den Nachrichten über Kinder sehe, die von ihren Eltern getötet worden sind, dann denke ich: Wie kann das sein? Die haben sich die Mühe gemacht, ihrem Kind einen Namen zu geben, sie haben sich überlegt, wie ihr Baby heißen soll. Aber wie kann man etwas umbringen, was einem wichtig genug ist, dass man ihm einen Namen gibt?
»Mein erster Besuch in einer Stripbar«, sagte Lyle und grinste sein schmallippiges Grinsen.
Ich bog nach links vom Highway ab, wie Krissis Mutter es gesagt hatte – als ich den einzigen im Telefonbuch verzeichneten Club anrief, hatte mir ein schmieriger Mann mitgeteilt, er glaube, Krissi sei »in der Gegend« – und fuhr auf den Gemeinschaftsparkplatz von drei Stripteaseschuppen, die alle in einer Reihe nebeneinander standen. Der Parkplatz hatte die Ausmaße einer Viehweide, und auf der – sehr weit entfernten – entgegengesetzten Seite gab es eine Tankstelle und einen Truckerpark: im hellen Glanz der Lampen sah ich die Silhouetten von Frauen, die wie Katzen zwischen den Fahrerkabinen hin und her huschten, Türen öffneten und schlossen sich, und nackte Beine wurden gedehnt und gestreckt, wenn sich ihre Besitzerinnen ins Fahrerhäuschen lehnten, um die nächste Nummer auszuhandeln. Vermutlich landeten die meisten Stripperinnen hier im Truckerpark, wenn die Clubs nichts mehr mit ihnen anfangen konnten.
Ich stieg aus und fummelte mit den Notizen herum, die Lyle mir gegeben hatte, eine ordentliche, nummerierte Liste mit Fragen, die ich Krissi stellen sollte, wenn wir sie fanden. Nummer eins: Stehen Sie immer noch zu Ihrer Behauptung, dass Sie als kleines Mädchen von Ben Day sexuell belästigt worden sind? Wenn ja, könnten Sie das bitte näher erläutern? Ich war gerade dabei, die Fragen noch einmal durchzugehen, als eine Bewegung rechts von mir meine Aufmerksamkeit auf sich zog. Im Truckerpark löste sich ein kleiner Schatten von der Seite eines
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