Dark Places - Gefährliche Erinnerung: Thriller (German Edition)
Miss Berdall ihr vielleicht etwas Leckeres zum Lunch mitbringen würde, wenn sie ihr erzählte, dass sie das Gespräch mitbekommen hatte. Anscheinend hatte Miss Berdall Michelle einmal ihr halbes Marmeladen-Donut geschenkt, und jetzt war Michelle für immer auf Miss Berdall und ihre braunen Papiertüten fixiert. Für gewöhnlich konnte man sich darauf verlassen, dass Lehrer einem ein halbes Sandwich oder ein Stück Obst abgaben, wenn man sie nur lange genug anstarrte. Nur durfte man die Methode nicht überstrapazieren, denn sonst lag irgendwann ein Brief von der Schule zu Hause im Briefkasten, und dann weinte Mom. Michelles Tagebücher waren voller Dramatik und versteckten Anspielungen, alles auf typischem Grundschulniveau: In der Pause hatte Mr McNancy direkt vor der Umkleidekabine der Jungen geraucht und dann Atemspray benutzt (das Wort Atemspray war mehrmals unterstrichen), damit keiner etwas merkte. Mrs Joekep aus der Kirche trank in ihrem Auto heimlich Alkohol … und als Michelle fragte, ob Mrs Joekep die Grippe hätte, weil sie etwas aus einem Fläschchen trank, hatte Mrs Joekep gelacht und ihr zwanzig Dollar für Girl-Scout-Cookies gegeben, obwohl Michelle gar nicht zu den Girl Scouts gehörte.
Himmel, sie hatte sogar Dinge über mich aufgeschrieben: Zum Beispiel wusste sie, dass ich Mom angelogen hatte wegen der Sache mit Jessica O’Donnell. Das stimmte: Ich hatte dem armen Mädchen ein Veilchen verpasst, meiner Mutter aber geschworen, dass sie von der Schaukel gefallen sein musste.
Libby hat mir gesagt, dass der Teufel sie dazu gezwungen habe
, schrieb Michelle.
Ich weiß nicht, ob ich es Mom sagen soll
.
Ich klappte das Buch von 1983 zu und blätterte eine Weile in denen von 1982 und 1984 herum. Das Tagebuch der zweiten Hälfte 1984 las ich sorgfältig, falls Michelle irgendetwas Interessantes über Ben zu Papier gebracht hatte. Aber ich fand nicht viel, außer dass er ein Blödmann sei und keiner ihn mochte. Ich fragte mich, ob die Cops dieses Zeug damals auch durchgegangen waren. Ich stellte mir irgendeinen armen Neuling vor, der sich um Mitternacht noch einen Snack vom Chinesen reinzog und dabei las, wie Michelles Freundin zum ersten Mal ihre Periode bekommen hatte.
Noch neun Minuten. Weitere Geburtstagskarten und Briefe, und dann grub ich eine Notiz aus, die ordentlicher gefaltet war als der Rest, origamiartig, dass es fast phallisch aussah, was vermutlich Absicht gewesen war, denn obendrauf war das Wort » HENGST « gekritzelt. Ich faltete das Papier auseinander und las die mädchenhaft runde Schrift:
5 . 11 . 84
Lieber Hengst,
ich sitze in Bio und berühre mich unter dem Tisch, so scharf bin ich auf dich. Kannst du dir meine Muschi vorstellen? Die ist immer noch ganz schön rot von dir. Komm nach der Schule zu mir, okay? Ich will dich bespringen! Ich bin dermaßen heiß auf dich. Am liebsten wär mir, du könntest einfach bei mir wohnen, wenn meine Eltern weg sind. Deine Mom würde es wahrscheinlich gar nicht mitkriegen, so verpeilt, wie die ist! Es gibt also überhaupt keinen Sinn, dass du zu Hause bleibst, wo du doch genauso gut bei mir sein könntest. Raff dich auf und sag ihr, dass sie dir den Buckel runterrutschen kann. Wär doch blöd, wenn du eines Tages herkommst, und dann bin ich mit ’nem anderen zugange. War nur ’n Witz! Ach, ich bin so geil. Komm nach der Schule zu meinem Auto, ich parke drüben in der Passel Street.
Bis bald,
Diondra.
Ben hatte keine Freundin gehabt, auf gar keinen Fall. Kein Mensch, auch nicht Ben, hatte jemals eine Freundin erwähnt. Der Name klang nicht mal ansatzweise vertraut. Ganz unten in der Kiste war noch ein Stapel Schuljahrbücher, von 1975 , als Ben in die Schule gekommen war, bis 1990 , als Diane mich das erste Mal weggeschickt hatte.
Ich schlug das Jahrbuch von 1984 / 1985 auf und überflog die Leute aus Bens Klasse. Keine Diondra, aber ein Foto von Ben, das weh tat: hängende Schultern, ein angedeuteter Vokuhila und das Oxfordhemd, das er immer bei besonderen Anlässen trug. Ich malte mir aus, wie er es zu Hause für den Fototag angezogen und vor dem Spiegel sein Lächeln geübt hatte. Im September 1984 hatte er noch von Mom gekaufte Hemden getragen, und Anfang Januar 1985 war ein wütender, schwarzhaariger Kerl aus ihm geworden, den man wegen Mordes anklagte. Ich sah mir die Bilder des nächsthöheren Jahrgangs an, zuckte gelegentlich zusammen, wenn ich auf eine Diane oder Dina stieß, entdeckte aber keine Diondra. Dann ging ich noch eine
Weitere Kostenlose Bücher