Dark Places - Gefährliche Erinnerung: Thriller (German Edition)
leichtgemacht, mich zu entschuldigen. Selbst nach dieser letzten – sechsjährigen – Schweigerunde. Vermutlich hätte ich mein Buch für sie signieren sollen.
Dann wandte ich mich den anderen Schachteln zu, den Kisten unter meiner Treppe, die immer unheimlicher wurden, seit ich wieder Gedanken an die Mordnacht zuließ. Alles nur Krimskrams, unbelebte Gegenstände, sagte ich mir. Das Zeug kann dir nichts anhaben.
Als ich vierzehn war, dachte ich oft daran, mich umzubringen – heute sind Selbstmordgedanken eine Art Hobby von mir, aber damals war es meine Berufung. An einem Morgen im September, als gerade die Schule wieder angefangen hatte, holte ich Dianes . 44 er Magnum und hielt sie stundenlang wie ein Baby auf dem Schoß. Was für ein Genuss würde es sein, mir einfach die Birne wegzublasen. Alle meine fiesen Gedanken würden mit der Explosion davonfliegen wie verblühte Löwenzahnschirmchen im Wind. Aber ich dachte an Diane, stellte mir vor, wie sie heimkommen und meinen kleinen Körper und eine rotbespritzte Wand vorfinden würde, und da brachte ich es nicht übers Herz. Wahrscheinlich war ich deshalb so gemein zu ihr, weil sie mich von dem abhielt, was ich mir am meisten wünschte. Ich konnte es ihr einfach nicht antun, und deshalb traf ich eine Abmachung mit mir selbst: Wenn ich mich am 1 . Februar immer noch so mies fühle, bringe ich mich um. Am 1 . Februar fühlte ich mich zwar noch genauso mies, aber ich machte wieder einen Deal: Wenn es am 1 . Mai noch so schlimm ist, tu ich es. Und so weiter. Ich lebe immer noch.
Lange schaute ich die Schachteln an und traf wieder eine Abmachung mit mir selbst: Wenn ich es in zwanzig Minuten nicht mehr aushalte, verbrenne ich das ganze Zeug.
Die erste Schachtel ließ sich leicht öffnen, denn eine Seite gab sofort nach, als ich das Klebeband entfernte. Darin befand sich ganz oben das Konzert-T-Shirt von The Police, das meiner Mutter gehört hatte, fleckig und extrem weich.
Noch achtzehn Minuten.
Darunter befand sich ein mit einem Gummiband zusammengehaltener Stapel Hefte, alle von Debby. Ich blätterte planlos darin herum:
Harry S. Truman war der 33 . amerikanische Präsident und kam aus Missouri.
Das Herz ist eine Pumpe im Körper. Es sorgt dafür, dass das Blut überall hinkommt.
Dann kam ein Stapel Briefe zum Vorschein, von Michelle an mich, von mir an Debby, von Debby an Michelle. Ich ging sie durch und fischte eine Geburtstagskarte aus dem Wust: Ein Eisbecher mit einer aus roten Pailletten aufgeklebten Kirsche.
Liebe Debby, stand in der verkrampften Handschrift meiner Mom darauf. Wir sind sehr glücklich, dass wir so ein süßes, liebes, hilfsbereites Mädchen in der Familie haben. Du bist für mich das Sahnehäubchen mit der Kirsche obendrauf! Mom
Nie hat sie »Mommy« geschrieben, dachte ich, und wir haben sie auch nie so genannt, nicht mal, als wir noch ganz klein waren. Ich will meine Mommy, dachte ich. Das haben wir nie gesagt.
Ich will meine Mom
. Auf einmal spürte ich, wie sich in mir etwas löste, das sich nicht lösen sollte. Eine Naht ging auf.
Noch vierzehn Minuten.
Ich stöberte durch weitere Briefchen, legte die langweiligen, geistlosen für den Kill Club beiseite, vermisste meine Schwestern, lachte gelegentlich über unsere sonderbaren Sorgen, die verschlüsselten Botschaften, die primitiven Zeichnungen, die Listen von Leuten, die wir mochten oder nicht mochten. Ich hatte vergessen, wie eng wir miteinander verbunden gewesen waren. Die Day-Mädchen. So hatte ich es nie gesehen, aber jetzt, wo ich wie eine altjüngferliche Anthropologin unser Geschreibsel studierte, begriff ich, dass es genauso gewesen war.
Noch elf Minuten. Da waren Michelles Tagebücher, ein kunstledernes Bündel. Jedes Jahr bekam sie zwei solcher Hefte zu Weihnachten – sie brauchte doppelt so viel Platz zum Schreiben wie normale Mädchen. Jedes Jahr begann sie noch unter dem Weihnachtsbaum mit einem Eintrag in das neueste Heft, listete jedes unserer Geschenke auf und führte Buch über jede Einzelheit.
Ich schlug ein Tagebuch von 1983 auf und erinnerte mich dabei, wie schrecklich neugierig Michelle schon mit neun Jahren gewesen war, dass sie ständig ihre Nase in anderer Leute Angelegenheiten gesteckt hatte. An diesem Tag berichtete sie davon, dass sie gehört hätte, wie ihre Lieblingslehrerin, Miss Berdall, am Telefon im Lehrerzimmer einem Mann schmutzige Dinge gesagt hatte – dabei war Miss Berdall nicht mal verheiratet. Michelle überlegte nun, ob
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