Dark Road
Schuss löste sich und zertrümmerte einen Spiegel hinter ihm. Der Chauffeur entwand die Waffe seinem Griff und schwang sie brutal durch die Luft. Dabei traf er Anselm seitlich am Kopf, der daraufhin rückwärts gegen die Wand krachte.
Ernesto versuchte, unter Golightly hindurchzukriechen, aber Golightly hielt ihn an seinen Haaren fest.
»Lass ihn in Ruhe!«, rief Anselm und rang nach Luft.
»Wenn wir das nur könnten.« Golightly riss so fest an Ernestos Haaren, dass dieser aufschrie. »Aber verstehst du, er ist alles, was zwischen mir und meiner Zukunft steht. Also hast du in deinem Wahn aus Angst, dass auch er unter dem Fluch der Familie leiden könnte, beschlossen, ihn aus diesem Fenster hier zu werfen. Ich habe ein neues Testament aufgesetzt. Sollte Ernesto irgendetwas geschehen, geht dein gesamter Besitz an mich über. Ich habe deine Unterschrift gefälscht. Das tue ich schon seit Jahren.«
Er begann, Ernesto quer durch den Raum zu schleifen. Das Fenster war nicht besonders groß. Aber groß genug.
»Nein! Nein!« Anselm klang, als würde er ersticken. Der Chauffeur stieß einen Fluch aus. Ernesto konnte nichts sehen — Golightlys vor Anstrengung verzerrtes Gesicht versperrte ihm die Sicht.
»Und ich werde deinen Sohn finden«, knurrte Golightly. »Und ich werde ... auch ... ihn ... töten.«
Ernesto wusste genau, was sich unterhalb des Fensters befand.
Anselms Zimmer lag im fünften Stock direkt über seinem eigenen.
Er biss Golightly in die Hand und kassierte dafür einen Schlag auf den Mund. Golightly hob ihn hoch und schob ihn rückwärts durch die schmale Öffnung. Ernestos Jacke verfing sich, das Geräusch von reißendem Stoff war zu hören. Er klammerte sich an die Steinkante des Fensters, seine Füße suchten auf dem Fenstersims Halt. Er wandte den Kopf und sah über seine Schulter in den tiefen Abgrund ...
Dann löste Golightly grinsend Ernestos Finger vom Fensterrahmen, schlug ihm mit seiner feuchten Hand ins Gesicht und verpasste ihm einen Hieb in den Magen, sodass er sich zusammenfaltete wie eine Stoffpuppe.
Ernesto fiel rückwärts, drehte sich in der Luft.
Der Verwalter blieb lange genug am Fenster, um zu sehen, dass der Junge auf dem Flachdach des Erkerfensters zwei Stockwerke weiter unten aufschlug und außer Sichtweite von ihm herunterrollte. Dann drehte er sich um zu seiner nächsten Aufgabe, die im Zimmer auf ihn wartete.
Er wusste nicht, wie gut Ernesto die Dächer und Mauervorsprünge kannte. Fischers Lieblingsplätze, die Ernesto heimlich im Mondlicht erklommen hatte, seiner Katze folgend.
Ernesto schlug auf dem kleinen flachen Dach auf, rollte gefährlich weit herunter, klammerte sich an die Regenrinne und arbeitete sich dann zentimeterweise und mit den Beinen Schwung holend bis zu einem Sims vor, der sich über die gesamte Seite des Gebäudes erstreckte, rutschig von altem Vogeldreck.
Aus dem Augenwinkel konnte er sehen, wie tief er fallen würde. Seine Fingernägel waren abgebrochen und bluteten, der Schmerz des Schlags in seinen Magen ließ ihn würgen. Er stemmte sich mit den Beinen gegen die Regenrinne.
Schreie aus dem Raum über ihm. Lärm.
Ernestos Mund war voll mit etwas Brennendem. Einen Augenblick lang dachte er, er sehe Fischer auf dem Dach, seine ruhigen grünen Augen, die ihn beobachteten. Dann entdeckte er genau dort einen tiefen Riss im verwitterten Stein. Mit verzweifelter, schmerzhafter Anstrengung griff er danach und zog sich, mit den Füßen nach Halt suchend, hinauf, bis er schließlich wieder oben auf dem Erker stand.
Er blickte hoch zum geöffneten Fenster.
Dann hinunter und zur Seite. Es gab einen Weg. Wenn man mutig genug war, konnte man sich an Simsen und Balkonen an der Seite des Gebäudes entlanghangeln, zu den niedrigeren Dächern und dem Wassergarten, und entkommen.
Ernesto steckte seine blutige Hand in die Tasche und spürte den Schutzengel.
Dann hörte er Golightly schreien und Anselms Stimme, die zurückschrie, dass Golightly ein Feigling sei.
Er begann zu klettern. Nicht hinunter in die Sicherheit. Sondern nach oben zu Anselm.
Zwei lange, nervenaufreibende Minuten später lag er bäuchlings auf dem Sims direkt über Anselms Fenster. Er beugte sich kopfüber vor und schaute hinein.
Der Chauffeur lag reglos am Boden. Golightly hielt das Gewehr fest gegen Anselms Brust gedrückt. Jedes einzelne Möbelstück war umgeworfen oder kaputt. War Anselm verletzt? Er hatte die Hände hinter seinem Rücken, sie waren nicht zu sehen.
Golightly
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