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Dark Room

Dark Room

Titel: Dark Room Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sophie Andresky
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spielten, aber sie rührte sich nicht. Stritt nichts ab. Wehrte sich nicht. In diesem Moment wusste Fiona, dass sie auf dem richtigen Weg war, und eine Gänsehaut kroch über ihren Rücken. Schlagartig wurden ihre Hände und Füße kalt, sie fühlten sich wie abgestorben an, und ihr zugeschnürter Brustkorb ließ sie nur flach atmen.
    »Liebchen«, setzte Lorina an und griff sich ans Herz, »hol mir bitte ein Glas Wasser, sei so gut.« Ihre Stimme war leise und brüchig, und Fiona sprang sofort auf und lief in die Küche.
    Als sie wiederkam, sah sie gerade noch, wie Lorina ihre Hand unter den geblümten Morgenrock schob. Sie stellte ihr das Glas auf die Sessellehne, und als Lorina danach griff, fasste Fiona einfach in die Stofffalte, so blitzschnell, dass die alte Frau es nicht verhindern konnte. Sie hielt Lorinas Handy in der Hand. Das Display zeigte noch ihre letzte abgeschickte SMS: »F ist hier und weiß es!«
    Sie schrie auf, als wäre sie geschlagen worden. Außer sich vor Wut und Entsetzen warf sie das Handy gegen die Wand. Sie beugte sich über Lorina und packte sie an den Schultern, mühsam beherrschte sie sich, nicht zu fest zuzupacken.
    »Was soll das? Wem simst du da?«
    Sie zerrte Lorinas Arm hoch und nahm ihr die kleine Cupcake-Tasche ab. Sie lief in der Wohnung hin und her, von einer Wand zur nächsten, und wusste nicht genau, was sie als Nächstes tun würde, bis sie einen massiven Brieföffner auf einer Kommode liegen sah, halb verdeckt von einer Platte voller Muffins. Sie zog ihn hervor, einige der Muffins kullerten herunter und blieben auf dem Teppich liegen. Fiona kümmerte sich nicht darum. Sie fuhrwerkte mit dem Brieföffner im Verschluss der Tasche herum, bis es knackte, öffnete sie und starrte hinein.
    Sie brauchte lange, um zu verstehen, was sie sah. Sie konnte regelrecht fühlen, wie die Informationen, die ihre Augen aufnahmen, durch die Nervenbahnen schossen und im Gehirn ankamen, all das geschah in Zeitlupe, ihr Mund öffnete sich, ihre Augen wurden groß wie auf einer afrikanischen Maske, ein eiskalter Griff schloss sich um ihr Herz und versuchte, es auszuwringen. Es dauerte wieder gefühlte Ewigkeiten, bis ihr Gehirn alles sortiert und zugeordnet hatte und sich Worte bildeten, die schließlich den Weg aus ihrem Mund fanden.
    »Was hast du getan?!«, schrie sie Lorina an und stürmte auf sie zu. Die Flüssigkeit im Infusionsbeutel kräuselte sich. »Das war meine Freundin! Du hast dich um sie gekümmert!«
    Fiona schüttete den Inhalt der Tasche auf dem Couchtisch aus: eine gebogene große Nadel, schwarzes dickes Garn, ein Büschel Haare, ein Tablettenröhrchen.
    »Wie konntest du?!«
    Lorina beugte sich mühsam vor und versuchte, Fionas Hand zu nehmen, aber die sprang zurück und sah Lorina mit so viel Ekel an, als säße eine haarige Spinne vor ihr im Sessel. Sie stammelte nur noch, während sie sich bemühte, einigermaßen normal zu atmen, es gelang ihr nicht. Schließlich sank sie zusammen und schluchzte.
    Lorina wartete, dann begann sie, japsend und undeutlich durch die Sauerstoffmaske zu sprechen.
    »Es war ein Unfall! Es sollte nur ein Denkzettel werden. Ich hab es für dich getan.«
    Fiona starrte sie mit aufgerissenen Augen an, ohne zu blinzeln, bis ihre Augen kribbelten. »Bist du völlig irre?«
    Lorina verlagerte ächzend ihr Gewicht im Sessel und griff sich wieder ans Herz. Sie tastete nach dem Wasserglas und stieß es mit ihrer zitternden Hand um. Fiona rührte sich nicht.
    »Du warst so traurig. Evi hat dich unmöglich behandelt. Ihr wart beste Freundinnen, und dann lässt sie dich links liegen. Ich hab doch gespürt, wie traurig du warst. Eine Mutter spürt so was.«
    »Du bist nicht meine Mutter!«, schrie Fiona und sprang auf. Am liebsten hätte sie die alte Frau geschlagen, beherrschte sich aber und setzte sich wieder. »Du hast eine Frau getötet! Unsere Evi! Begreifst du das denn?« Fionas Gedanken überschlugen sich, sie versuchte abzuschätzen, ob Lorina vielleicht wirklich geisteskrank war, ob es Anzeichen dafür gegeben hatte, aber sie fand nichts. Ihr fiel der typische Satz ein, den Nachbarn immer sagen, wenn sie von Reportern erfahren, dass der Mieter aus 3b ein perverser Mörder war. »Er hat doch immer freundlich gegrüßt«, sagen sie dann oder manchmal auch: »Er hat doch immer seinen Müll getrennt.« Genauso war es auch mit ihrer Tante. Sie war eine normale, resolute, ältere Frau.
    »Ein Unfall«, wiederholte Lorina, »ich wollte ihr nur die Haare

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