Dark Room
vorwärtsgeht.«
Die alte Frau nickte und reichte ihr einen Glasteller mit Donuts, die Augen aus Zuckerperlen und Schnurrbarthaare aus Zuckerguss hatten. Fiona lehnte ab. »Ich muss wissen, was du in der Mordnacht beobachtet hast.«
Unten vermischte sich der Gesang der Sektenmitglieder mit Pfiffen und Rufen der Demonstranten. Fiona wurde dadurch abgelenkt, aber sie konnte nicht verstehen, worum es ging. Als sie sich wieder Tante Lorina zuwandte, hatte die das Sauerstoffgerät, das neben ihrem Sessel stand, aufgedreht und die Atemmaske aufgesetzt. Sie nahm ein paar tiefe Atemzüge und lächelte müde. »Geht schon wieder, Kindchen. Daran müssen wir uns gewöhnen.«
Sie breitete zwei Decken über dem Sofa aus, hob umständlich die goldene Kette des Cupcaketäschchens über den Kopf und ließ ihren Kimono von den Schultern gleiten. Ihre Haut hing runzlig und fahl an ihr herab wie ein zu großes Hemd. Sie drehte Fiona den Rücken zu und legte sich ächzend auf den Bauch. Die kitschige Tasche lag neben ihrem Kopf. Sie hielt eine Hand darauf, als fürchtete sie, sie könne ihr gestohlen werden, wenn sie sie auch nur einen Moment aus den Augen ließ.
»Massier mich ein bisschen, während wir sprechen, Liebchen. Du weißt doch, das tut mir so gut. Geh und hol die Flasche Öl aus meinem Schlafzimmer.«
Fiona stand auf und betrat das dämmrige Schlafzimmer. Hier waren die dunkelroten Vorhänge zugezogen und bewegten sich leicht in der Sommerbrise. Vor dem Fenster war ein Fotoapparat mit großem Teleobjektiv auf ein Stativ geschraubt. Daneben ein Laptop und ein Drucker. Als sie sich nach der Flasche Öl auf dem Nachttisch streckte, stieß sie gegen den Laptop. Die umherwirbelnden Spielkarten, die als Bildschirmschoner eingestellt waren, verschwanden, und stattdessen erschien eine weiße Hand, die schlaff herabhing. Fiona erkannte sie sofort und erstarrte. An einem der Finger steckte Evis breiter Silberring. Sie schaute sich um und entdeckte eine Fototasche, die sie in den Bund ihrer Jeans steckte, ohne sie weiter anzusehen. Sie wusste auch so, was auf den Fotos zu sehen sein würde: der Tatort. Tante Lorina fotografierte alles und jeden, wenn sie nachts keinen Schlaf fand.
Fionas Kopf füllte sich an mit Bildern, die sie erst gar nicht richtig zuordnen konnte. Sie spürte es kribbeln zwischen ihren Beinen. Gleichzeitig füllte diese Eiseskälte sie aus, wenn sie an Evis schlaffe weiße Hand auf dem Foto dachte. Sie wehrte sich dagegen, aber das Kribbeln gewann die Oberhand, und als Fiona keinen Widerstand mehr leistete, empfand sie auch die Erleichterung wegzutreiben, in ihre Erinnerungen einzutauchen und sich den angenehmeren Gefühlen hinzugeben, die sich ausbreiteten. Sie sah ihren Schlafraum des Kinderheimes vor sich. Die hellgrünen Bezüge auf den Decken, die Poster an den Wänden. Die Mädchen schliefen zu viert oder zu sechst in einem Zimmer, und Evi hatte ihr Bett eigentlich in einem Raum am Ende des Ganges, wo die älteren Mädchen wohnten. Aber einige Tage nachdem Fiona ihr gegen die zudringlichen Wärter beigestanden hatte, kam Evi zu ihr herüber. Es war später Nachmittag, die Sonne stand tief und beleuchtete rot die Längswand. Die anderen Mädchen waren beim Sport oder in einer Freizeitgruppe, an der Fiona nie teilnahm. Sie saß auf dem Bett, summte leise und zählte die Rauten in der Tapete. Immer vier Rauten und einatmen. Vier Rauten und ausatmen. Fiona hatte festgestellt, dass sie am wenigsten nachdenken musste, wenn sie sich aufs Zählen und Atmen konzentrierte.
Evi öffnete die Tür und huschte herein, ohne anzuklopfen oder zu fragen, ganz so, als sei es eine Selbstverständlichkeit. Sie setzte sich neben Fiona auf das Bett und legte den Kopf an ihre Schulter. Beide Mädchen sagten kein Wort. Irgendwann merkte Fiona, dass Evi eingeschlafen war, und zögernd entspannte sie sich. Die Sonne wanderte über die Ecke, es wurde dämmrig. Es war ganz still. Die anderen würden direkt aus den Freizeitgruppen zum Abendessen gehen. Evi bewegte sich neben ihr und räkelte sich ein bisschen, ohne den Kopf von ihrer Schulter zu nehmen. Fiona schob den Arm hinter ihren Rücken und zog sie an sich. Sie fühlte ihr Herz klopfen, laut und lebendig, und endlich einmal war ihr nicht kalt. Eine Gänsehaut überzog sie, als sie fühlte, wie Evi vorsichtig ihr Bein mit dem Handrücken streichelte. Sie drehte den Kopf und hauchte Fiona einen Kuss auf den Hals. Fiona wusste nicht, was sie jetzt tun sollte, aber Evi war zwei
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