Dark Silence - Denn deine Schuld wird nie vergehen
so, schon als Kind. Aber zurzeit ist es schlimmer denn je.« Nick trat heftig auf die Bremse, um nicht auf einen Minivan aufzufahren, der plötzlich vor ihnen angehalten hatte. »Ich wüsste zu gern, in welchen Schlamassel er hineingeraten ist.« Sie fuhren durchs Presidio weiter in südliche Richtung. »Lass uns deinen Bruder besuchen, bevor wir zur Polizei gehen.«
»Ja, gern«, stimmte Marla zu, wappnete sich aber insgeheim gegen eine weitere Zurückweisung. Sie erwartete nicht, dass Rory ihr freundlicher begegnete als ihr Vater.
Es war schlimmer, als sie es sich vorgestellt hatte. Das Gebäude war alt, aber renoviert, die goldgelbe Backsteinfassade wirkte sauber und ordentlich, drinnen war es hell und freundlich. »Es tut mir leid«, sagte die Schwester an der Rezeption, nachdem Marla ihren Wunsch vorgetragen hatte. »Besuch ist nur den Angehörigen gestattet. Wenn Sie sich nicht als Marla Cahill ausweisen können, darf ich Sie nicht zu ihm lassen.«
»Und wie steht es mit mir? Ich bin Marlas Schwager.« Nick zückte seine Brieftasche und legte seinen Führerschein vor.
»Tut mir leid.« Die Schwester schüttelte den Kopf und lächelte Marla freundlich an. »Wenn Sie Ihren Ausweis mitbringen, können Sie Ihren Bruder jederzeit besuchen.«
»Aber …«
»Das ist nun einmal Vorschrift.«
Ein Gespräch mit einem Verwaltungsbeamten brachte sie auch nicht weiter. Entmutigt verließ Marla schließlich das Backsteingebäude. »Bisher war alles vergebens«, murrte sie und schlug fröstelnd den Mantelkragen hoch.
»Das kann sich noch ändern«, redete Nick ihr wenig überzeugend zu.
Sie stiegen in den Pick-up und fuhren zum Polizeirevier. Wolkenkratzer warfen Schatten über die Straßen der Stadt, auf den Gehwegen drängten sich Fußgänger. Rikschas und Fahrräder schlängelten sich zwischen Autos, Pick-ups und Kleinbussen hindurch. Ein paar Straßen weiter heulte irgendwo eine Sirene.
»Hat Alex dir verraten, wohin er letzte Nacht noch gefahren ist?«, fragte Nick.
»Ich habe ihn heute noch nicht gesehen. Ich weiß nicht einmal genau, ob er nach Hause gekommen ist«, gestand sie. »Carmen sagte, er hätte heute schon früh am Morgen eine Konferenz gehabt.«
»Es war nicht das erste Mal, dass er nachts das Haus verlassen hat.« Nick warf einen Blick auf die Straßenschilder und bog links ab. »Neulich, nachdem er dich von deinem Termin mit Dr.Robertson zurückgebracht hatte, ist er noch einmal weggefahren. Er hat dir wohl davon auch nichts gesagt?«
» Nein«, antwortete Marla und strich über die Armlehne des Pick-ups. Ein ungutes Gefühl beschlich sie. »Die Machenschaften meines Mannes sind mir ein Rätsel.« Vergeblich suchte sie nach einer Erklärung für Alex’ Verhalten. »Ich weiß, dass er in wichtigen Verhandlungen mit irgendwelchen japanischen Geschäftsleuten steckt, Investoren, glaube ich, aber abgesehen davon habe ich keine Ahnung, was er so treibt.«
»Findest du das nicht seltsam?«
Marla lachte trocken. Nick bremste hinter einem Taxi ab, das auf seine Fahrspur herüberzog. »Mein ganzes Leben ist merkwürdig, Nick«, sagte sie. »Ein Ehemann, der etwas vor mir verheimlicht, eine Tochter, die mich ablehnt, ein Vater, der mich verachtet und mich für eine Hochstaplerin hält, und ein Schwager, der … der …«
»Der was?«
Sie konnte es nicht eingestehen, konnte die belastenden Worte nicht aussprechen – dass sie sich zu ihm hingezogen fühlte, dass ihre Knie weich wurden und ihr Blut in Wallung geriet, wenn er sie berührte. »Der … mich beunruhigt«, brachte sie schließlich hervor, und seine Lippen zuckten angesichts der Untertreibung. »Wie man es auch dreht und wendet, wir sind weiß Gott nicht die amerikanische Bilderbuchfamilie. Und, ja, Nick, ich finde das alles seltsam. Sehr seltsam. Ich hoffe nur, dass ich den Rätseln bald auf die Spur komme, bevor ich den Verstand verliere.«
»Oder bevor du umgebracht wirst«, erwiderte Nick ernst.
»Umgebracht?«, wiederholte Marla und fröstelte. Sie wollte sich nicht in irgendeinen melodramatischen Verfolgungswahn hineinsteigern. Zwar hatte sie auch schon daran gedacht, dass womöglich jemand versuchte, sie zu ermorden, aber bisher war es ihr gelungen, den Gedanken als übertriebene Angst abzutun. Die Befürchtung, von jemand anderem zu hören, ließ das Ganze umso viel wirklicher erscheinen. Trotzdem wollte Marla es nicht glauben.
»Denk mal darüber nach«, beharrte Nick. »In der Unfallnacht hast du jemanden auf der Straße
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