Dark Silence - Denn deine Schuld wird nie vergehen
diese Hölle gehe.«
Er schaltete herunter und überholte eine Limousine, die vor einer Abzweigung verlangsamte.
Marla ließ sich in den Sitz zurücksinken. Ihre Gefühle lagen bloß. So vieles in ihrem Leben war aus dem Zusammenhang gerissen, es bestand aus Fetzen und Stückchen, die nicht zusammenpassten. Und ihre Beziehung zu Nick war so wenig greifbar, so beunruhigend, so intensiv, dass es sie entsetzlich ängstigte. »Wir sollten in Erfahrung bringen, wer diese Kylie ist.«
»Sofern es sie gibt.«
»Genau.«
Nick schwieg, schaltete in den vierten Gang und gab Gas. Marla verschränkte die Arme vor der Brust und wippte nervös mit dem Fuß. Nick war ihr einziger Verbündeter, manchmal aber auch ihr ärgster Feind. Mal hatte sie das Gefühl, ihm vertrauen zu können, dann wieder sagte sie sich, dass er der letzte Mensch sei, auf den sie sich verlassen durfte. Immerhin hegte er einen alten, tiefsitzenden Groll gegen sie.
»Ich möchte dir etwas zeigen«, sagte er und bog nach Sausalito ab, statt auf den Highway zurück nach San Francisco aufzufahren. Die kleine Gemeinde an der landeinwärts gelegenen Seite der Halbinsel, am nördlichen Ende der Golden Gate Bridge, erstreckte sich über einen Hügel; pastellfarbene Häuser, Blumen und Sträucher blickten hinab auf das glitzernde Wasser der Bucht.
»Was willst du mir zeigen? Wohin fahren wir?«
»Ich dachte, wir schauen uns mal an, wo Pam Delacroix gewohnt hat.«
»Warum?«
»Um deiner Erinnerung auf die Sprünge zu helfen«, erklärte Nick, schon bedeutend weniger feindselig. »Einverstanden?«
»Einen Versuch ist es wert.«
Er bog auf den Parkplatz eines Jachthafens an der Richardson Bay ein und stellte den Pick-up dort ab. »Sie hat in einem Hausboot gewohnt?«, fragte Marla mit einem Blick auf die schwimmenden Behausungen an dem breiten hölzernen Anlegesteg.
»Seit ihrer Scheidung.« Nick zeigte auf ein von der Sonne ausgebleichtes Dock in der Nähe eines zweigeschossigen Hausboots, und Marla hatte das Gefühl, von einem Geist berührt zu werden. Sie versuchte, sich die Frau auf den Fotos in ihrem alltäglichen Leben hier vorzustellen, wie sie Einkäufe heimbrachte, mit ihrer Tochter telefonierte, Hausverkäufe plante … aber in ihrem Gedächtnis regte sich nichts.
Sie musste sich an irgendetwas erinnern, das sie mit dieser Frau verband, die bei dem Unfall ihr Leben gelassen hatte. Entschlossen sprang Marla aus dem Pick-up und schlug die Beifahrertür zu. Der Tag war schön, der Himmel klar bis auf die Wolken, die von Westen heranzogen, doch Marla hatte das Gefühl, sich im Schatten halten, sich vor den Blicken der Nachbarn verstecken zu müssen, die vielleicht durch die Jalousien spähten. Durch den kalten, böigen Novemberwind ging sie auf die Eingangstür zu, neben der ein holzgeschnitzter Reiher mit Glasaugen stand, mit einem Willkommensschild im langen Schnabel. Nick klopfte energisch, dann warteten sie. Drinnen rührte sich nichts. Niemand öffnete. Die Jalousien blieben geschlossen. Nick schirmte die Augen mit der Hand ab und spähte durchs Fenster.
»Du hast doch nicht erwartet, dass jemand zu Hause ist, oder?«, fragte Marla und schob die Hände tief in ihre Manteltaschen.
»Nein, aber ich dachte, der Anblick würde vielleicht etwas bei dir auslösen, Erinnerungen wachrufen.«
»Wenn es nur so wäre.« Sie betrachtete das zweigeschossige Haus, die Stützpfeiler, die Terrasse aus Holzbohlen und die Terrakottakübel neben der Tür, die zu dieser Jahreszeit bis auf ein paar vertrocknete Stengel leer waren. Leer wie das Hausboot. Marla fröstelte, als sie auf die Terrasse trat, über die Pam hundertmal gegangen sein musste, um die Pflanzen zu gießen oder das Geländer zu streichen oder ein Sonnenbad in einem der Liegestühle zu nehmen, die unter einem Überdach gestapelt waren. Marla stieg die Treppe hinauf. Sie empfand eine tiefe Traurigkeit um dieser Frau willen, an die sie sich nicht erinnern konnte.
Auch im ersten Stock waren sämtliche Jalousien heruntergelassen. »Ich habe das Gefühl, über ihr Grab zu gehen«, sagte Marla, schlang die Arme um den Oberkörper und lauschte dem Wasser, das an den Pfählen und am Ufer plätscherte. Sie blickte über die Bucht hinweg auf Angel Island, und ihre Gedanken kreisten um die Frau, die bei ihr im Auto gesessen hatte und deren Gesicht sie nur von den Fotos kannte, die Nick ihr gezeigt hatte. Doch nichts regte sich. Nichts außer den Fragen, die sie seit ihrem Erwachen aus dem Koma Tag für Tag
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