Dark Swan: Schattenkind (German Edition)
rückte einen der Stühle heran und setzte sich. Er sah immer noch total fassungslos aus, aber während sein flinker Verstand das Ganze jetzt analysierte, änderte sich das rasch. Er nahm das Weinglas, das ich Ansonia weggenommen hatte, und trank einen Schluck. »Die gesamte Familie wirkt Wetter. Oder zumindest Wind und Luft. Ysabel, Pagiel … du?«
Ansonia nickte. »Aber ich bin nicht so stark wie sie.«
»Das hat nicht viel zu bedeuten«, sagte ich. »Magie wird nicht immer vererbt.«
»Immer nicht«, stimmte Dorian mir zu. »Aber oft. Und in der Linie des Sturmkönigs ganz gewiss, wenn man von Jasmine und dir ausgehen darf. Sie hat Wasser. Ysabel hat Luft. Du bist die Glückliche, die beides geerbt hat, was ja unserer Vermutung, dass du den Thronerben in die Welt setzen würdest, Nahrung gegeben hat. Und dann die … schau dir die Ähnlichkeit an. Ansonia und du, ihr seid erst neulich miteinander verwechselt worden.«
Er hatte recht. Mir wurde ganz anders. Wenn man genau hinsah, bestand keine große Ähnlichkeit zwischen Ansonia und mir, aber wir waren derselbe Typ. Das waren wir alle: Jasmine, Ysabel, Pagiel, Ansonia, ich. In Ohio hatte ich es witzig gefunden, wie bereitwillig die Klinik meine ›Geschwister‹ akzeptiert hatte. Jetzt war das plötzlich gar nicht mehr lustig.
»Oh Gott«, sagte ich.
Dorians Blick war in weite Ferne gerichtet. »Und Pagiels Macht ist gewachsen – deutlich. Wir haben nur nicht darauf geachtet, weil so viel los war.«
»Es ist mein Neffe «, sagte Jasmine verzweifelt. Niemand schenkte dem viel Beachtung.
Ich schloss die Augen, als mir noch etwas anderes klar wurde. »Und er hat mit der Eroberung der Menschenwelt bereits begonnen. Keiner von uns hat es gewusst. Er weiß es ja selbst nicht.« Ich öffnete die Augen. »Kiyo hatte recht. Prophezeiungen erfüllen sich wirklich auf unerwartete Weise.«
Und wo wir gerade von Kiyo sprachen … der absolute Hammer wurde mir jetzt erst klar. Isaac und Ivy. Wenn das alles stimmte, und allmählich glaubte ich es, dann war Isaac gar nicht der Thronerbe des Sturmkönigs. Weil er nicht der erste Enkelsohn war. Er war wirklich ein Unschuldiger, kein Eroberer der Welten. Die Prophezeiung betraf ihn gar nicht. Er war frei, sein eigenes Leben zu leben.
Hoffnung und Freude wuchsen in mir, aber ich behielt es für mich. Diese Erkenntnis war mir teurer als alles andere, was damit zusammenhing … aber sie spielte für das eigentliche Problem keine Rolle. Darüber konnte ich mich später immer noch freuen.
»Damit sind seine Diebeszüge noch um einiges ernster«, sagte ich. »Wenn an der Prophezeiung wirklich etwas Wahres ist … tja. Was er da macht, hat das Potenzial, sich zu etwas weit Größerem zu entwickeln.«
Dorian sagte nichts, und ich fragte mich, was er dachte. Vorhin war er damit einverstanden gewesen, Pagiel aufzuhalten – mir zuliebe. Aber da Pagiels Aktionen auf einmal viel bedeutsamer waren … was jetzt? Wo lagen seine Loyalitäten? Er hatte seine ganze Hingabe gerade erst mir zuerkannt, hatte geschworen, dass er alles für mich tun würde. Aber da hatte er auch noch nicht gewusst, dass die Sache, die er seit Langem unterstützte, bereits angelaufen war. Aus seiner Miene ließ sich nichts schließen, und das machte mich nervös. Meine Schutzmauern gingen wieder hoch.
Jasmine nutzte das Schweigen, um noch einmal zu sagen: »Pagiel ist mein Neffe. Schockt das denn sonst keinen? Wir sind praktisch miteinander gegangen.«
»Habt ihr miteinander geschlafen?«, fragte ich geradeheraus.
Sie wirkte ganz betroffen. »Na ja, das nicht … aber, hm, geküsst haben wir uns … und noch ein bisschen mehr … «
Ich beschloss, nicht weiter nachzuhaken, und zuckte mit den Achseln. »Dann bist du doch auf der sicheren Seite. Hätte um einiges schlimmer kommen können.« Jasmines Gesichtsausdruck besagte, dass sie das anders sah, aber sie sagte nichts weiter.
Danach eskalierte die Situation derart, dass ich im Traum nicht darauf gekommen wäre. Als Erstes stand natürlich an, noch einmal Ysabel und Edria kommen zu lassen, damit sie Ansonias Geschichte bestätigten. Dorian setzte seine knallharte Miene auf, aber ich glaube, sogar er war wie vor den Kopf geschlagen von der Beiläufigkeit, mit der Edria davon erzählte, wie sie vor vielen Jahren einmal die Geliebte des Sturmkönigs gewesen war. Sie benahm sich, als wäre nichts weiter dabei, im Mittelpunkt einer großen Prophezeiung zu stehen, und sie betrachtete Pagiels Aktionen als
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