Dark Village - Niemand ist ohne Schuld
riesig, schwarz und laut.
Nicholas klammert sich an Katie. Die Stadt macht ihm Angst. Noch nie hat er sich so klein und unbedeutend gefühlt.
Wenn er Katie verliert und allein eine der vielen Straßen entlanggeht – die wie kilometerlange Tunnel zwischen den hohen, grauen und schwarzen Häusern verlaufen –, wird er nie wieder irgendwohin finden, denkt er. Er wird verschwinden und von all den Bewegungen und Stimmen und Autos und den schweren Abgaswolken aufgesogen und gefressen werden.
Die Mutter wohnt in einem vierstöckigen Haus. Ihre Wohnung liegt im dritten Stock. Nicholas und Katie teilen sich ein Zimmer. Es ist sehr klein. Draußen vor dem Fenster ist eine Feuerleiter angebracht, die in den Hinterhof führt. Sie schlafen gemeinsam in einem Einzelbett. Rücken an Rücken liegen sie da, es ist eng, aber Nicholas ist trotzdem froh. Er kann bei Katie sein. Und das ist das Wichtigste. Er hat keine Angst.
Die Mutter hat häufig Männerbesuch. Die Männer bleiben nie lange, meistens nur eine Nacht, dann verschwinden sie und kommen nie wieder. Nicholas lernt, sie zu ignorieren. Sie sind nichts weiter als unwichtige fremde Geräusche und Gerüche, die ihre Wohnung durchqueren.
Wenn kein Mann da ist, trinkt die Mutter allein und hört sich melancholische Lieder an. Sie singt mit, und je mehr sie trinkt, umso lauter singt sie. Das Lied, das sie am häufigsten hört, handelt vom Regenbogen und allen Träumen, die in Erfüllung gehen.
„Oberpeinlich“, flüstert Katie.
Sie fängt an, die Nachbarschaft und die Stadt zu erkunden. Wenn ihre Mutter tagsüber schläft – entweder weil sie voll ist oder die ganze Nacht über unterwegs war oder beides – schleicht sich Katie über die Feuerleiter nach unten. Vorher gibt sie Nicholas etwas zu essen und parkt ihn vor dem Fernseher, in dem es unendlich viele Programme mit Zeichentrickserien gibt.
Und eines Tages – als sie schon fast ein Jahr dort sind – nimmt sie ihn mit zu dem fast hundert Jahre alten Vergnügungspark auf Coney Island. Mit der U-Bahn fahren sie bis Stillwell und von dort aus gehen sie zu Fuß. Der Eintritt ist frei, aber jedes Fahrgeschäft kostet zwei oder drei Dollar. Katie hat Geld. Nicholas weiß nicht, woher sie das hat. Die Mutter gibt ihnen nie Taschengeld.
Der Vergnügungspark dreht sich lebendig im Kreis. Überall ist Musik und Gelächter zu hören, überall hängen Plakate und Schilder und alles leuchtet hell und sauber. Es gibt ein Riesenrad und eine Schießbude und Autoscooter, Karusselle und eine Geisterbahn, einen Feuerschlucker und einen Schlangenbändiger und eine Frau mit großflächigen Tätowierungen, die Insekten isst. Und ganz am Schluss steht der Cyclone.
„Nicholas“, sagt Katie und zeigt auf die riesige Achterbahn. „Hast du Lust?“
Sie gehen darauf zu. Schließlich bleiben sie Hand in Hand davor stehen und schauen hinauf. Die Bahn ist gigantisch. Sie steht auf hohen weißen Stelzen. Die Schienen sind rostrot.
Nicholas weiß, dass sie schon alt ist. Das hat Katie ihm gestern erzählt. Schon über siebzig Jahre. Es macht einen fürchterlichen Lärm, wenn die Wagen abwärtssausen. Der Cyclone ist ein Inferno aus quietschendem Holz, schlagendem Metall und schreienden Menschen.
Der Cyclone bebt und vibriert, er lebt – er ist ein riesiges, sich aufbäumendes Monster.
Nicholas wird es heiß und er bekommt Angst. Er will nicht mehr hinsehen. Er will weg.
Katie lächelt ihn an. „Hast du Lust?“
Nein , denkt er, beinahe panisch. Aber er weiß, dass sie Lust hat. Sie hat sogar sehr große Lust, das hat sie gestern gesagt. Sie wollte vor allem hierher, weil sie mit dem Cyclone fahren möchte. Wenn er jetzt Nein sagt, kann sie das nicht. Nie im Leben würde sie ihn allein warten lassen. Nicht hier, wo so viel seltsame Menschen sind und alles Mögliche passieren kann.
Spielerisch schlenkert sie mit seiner Hand. „Und? Hast du Lust, Nicholas?“
2
Shit !
Mit einem Ruck setzte sich Nick im Bett auf. Er sah auf die Uhr auf der Kommode. Nur noch eine halbe Stunde bis zu seiner Verabredung mit Nora. Er war eingeschlafen und hatte geträumt. Von New York und der Mutter und von Katie. Von früher.
Er schwang die Beine aus dem Bett und blieb noch eine Minute sitzen, fuhr sich mit den Händen durch die Haare und bekam langsam wieder seinen Atem unter Kontrolle.
Schon komisch, dass er sich an so viele Einzelheiten erinnerte. Sie hätten schon längst verblassen und sich auflösen sollen.
Zwei Jahre hatten sie in New York
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