DARKNET
T-Shirts oder Plastikgartenstühle produzieren lassen wollte, ging dafür nach Vietnam oder Pakistan. Im Moment zumindest.
Ross sah aus dem Wagenfenster. Ein Strom von Tausenden blauuniformierter Fabrikarbeiterinnen mit verschiedenfarbigen Betriebsausweisen an der Brusttasche umspülte Ross’ chauffeurgelenkten Buick Regal. Durch die getönten Scheiben konnten sie Ross nicht sehen. Sein Fahrer hupte immer wieder und fluchte auf Mandarin, während er sich zentimeterweise durch die enge Gasse zwischen Produktionsgebäuden und Wohnheimen arbeitete. Ross studierte das Menschheitstableau, das sich da an ihm vorbeizwängte. Von nahem betrachtet, sahen die Arbeiterinnen alle verschieden aus. Die Augen. Der Gesichtsausdruck. Aber nach wenigen Sekunden verschwanden sie wieder in der Menge.
Er wusste, warum sie hier in Shenzen waren – um ihren Familien im ländlichen China Geld zu schicken. So viel Verantwortung ruhte auf den Schultern dieser jungen Frauen. Sie waren vielleicht die einzige Hoffnung einer Familie, die sich schwer verschuldet hatte, um sie hierherzuschicken. Wenn sie versagten, konnte das bedeuten, dass die Familie ihr Haus verlor. Diese Bürde gab ihrem Arbeitsleben eine Dimension von tödlichem Ernst – zumal jetzt, da die Weltwirtschaft wankte und Entlassungen in der ganzen Stadt an der Tagesordnung waren.
Ross wusste, solche Migrationsbewegungen gab es auf der ganzen Welt. Angesichts globaler Märkte konnte der einzelne Bauer preislich nicht mehr mit der industriellen Landwirtschaft konkurrieren. Landflucht setzte ein, Land wurde zu Großanbauflächen akkumuliert, um mit Maschinen effizient bewirtschaftbar zu sein, und den überschüssigen Arbeitskräften blieb kaum etwas anderes übrig, als in die Städte zu gehen und sich Arbeit in der Industrie zu suchen. So war es auch in Indien, auf den Philippinen und in Indonesien. Ja, selbst in Amerika. Es war die größte Migrationswelle in der Geschichte der Menschheit. Und das alles wegen des Bestrebens, immer noch effizienter und kostengünstiger zu produzieren.
Doch ebendiese Effizienz machte das System anfällig für den Daemon. Dieselben uniformen Netzwerke, die Geld und Information in Sekundenbruchteilen zwischen Märkten bewegten, erlaubten es den simplen Bots des Daemon, sich als High-Level-Managementstrategie zu maskieren, die Fertigung und Lieferung von Gütern zu veranlassen – und die Beweisspuren zu löschen. Hochmodernes Just-in-Time-Management hatte in mehr als nur einem Sinn eine lautlose Revolution eingeleitet.
Das war Sobols Vermächtnis.
Ross’ Wagen bog von der überfüllten Hauptstraße ab, in ein menschenleeres Gässchen zwischen Fabrikgebäuden mit hohen Fensterreihen. Die Arbeiterinnen nahmen wohl allesamt den kürzesten Weg von A nach B: In diese Gasse verirrte sich keine. Der Buick näherte sich einer ungekennzeichneten Stahltür, die ein im D-Raum schwebendes Auge, glimmend und katzenhaft, als sein Ziel markierte. Für Nicht-Darknet-Mitglieder war es nicht sichtbar.
Er tippte dem Fahrer auf die Schulter und deutete auf die Tür. Der Wagen hielt und Ross stieg aus.
Er stand in der Feuerwehrgasse vor der ungekennzeichneten Tür. Sie hatte auf dieser Seite weder Klinke noch Angeln. Der Stahl wirkte so massiv, als könnte er Gewehrkugeln aufhalten. Ross justierte seine HUD -Brille der zweiten Generation – kleiner und businessmäßiger als die frühen Modelle – und schaute zu dem glimmenden, dreidimensionalen Auge empor. Ein geisterhaftes Objekt, das nur im virtuellen Raum existierte. Er drehte sich zu dem schwarzen Buick um, der immer noch wartete. Er bedeutete dem Fahrer wegzufahren und beantwortete dessen fragende Miene mit einem Nicken. Der Fahrer zuckte die Achseln, schrieb etwas in sein Fahrtenbuch und fuhr davon.
Ross sah dem Wagen nach, griff dann in seine Jacketttasche und zog ein kleines Silberamulett heraus, in dem ein grüner Stein saß, ein Katzenauge. Es entsprach genau dem Symbol über der Tür. Er hielt das Amulett so in seine Blicklinie durch die HUD -Brille, dass es sich mit dem glimmenden Symbol deckte. Dann sagte er langsam in einer Sprache, die es nur in der von Matthew Sobol erschaffenen Onlinespiele-Welt gab: «De abolonos – fi theseo va – temposum – gara semulo – va cavrotos.»
Als er die letzte Silbe ausgesprochen hatte, ging von seinem Amulett helles Licht aus. Er war sich sicher, dass es nur D-Raum-Licht war, in der realen Welt nicht existent. Für ihn aber war es real, also kniff
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