DARKNET
worden, und es würde ein Sicherheitsmodell darstellen, das in aller Welt Nachahmer finden würde. Shen war in diesem Moment ungeheuer stolz auf diesen weiteren Beleg für Chinas technologisches Können. Und er sagte sich, dass das Projekt nötig war. Nötig, um die Chinesen vor sich selbst zu schützen. Nur die Aufrechterhaltung der Ordnung konnte verhindern, dass imperialistische Kräfte das chinesische Volk wieder um das brachten, was ihm zustand.
Während Shen sich durch konzentrische Ringe von Sicherheitsvorkehrungen bewegte, blickte er zu den unzähligen Kamera- und Sensorhalbkugeln empor, die, wie er wusste, in ebendiesem Moment sein Gesicht, sein Wärmebild, seine Transpirations- und Atemmuster analysierten, um festzustellen, ob er unter innerem Druck stand.
Draußen auf den Straßen deckten zwei Millionen vernetzter Überwachungskameras die gesamte Stadt Shenzhen ab. Im Jahr 2006 hatte die Regierung verfügt, dass Internetcafés, Restaurants und Bars Videokameras installieren mussten, die ihre Bilder direkt an das nächste Polizeirevier sendeten. Von da gingen die Bilder an eine zentrale Cloud-Computing-Anwendung, die in der Lage war, sie beliebig vielen Algorithmen zu unterziehen und ihrerseits die Polizei vor Ort zu alarmieren, wenn sie verdächtige Verhaltenweisen ausmachte: rennende Personen, heftige Bewegungen, spontane Zusammenrottungen von mehr als fünf Personen, Flammen. Und dann waren da noch die Suchmöglichkeiten: Der «Eins-unter-zehn-Millionen-Test» war der Maßstab für Gesichtserkennungsalgorithmen, und Software vermochte routinemäßig kaukasische und dunkelhäutige Personen auszumachen oder das Geschlecht von Individuen zu erkennen. Die Liste der Möglichkeiten war lang und wurde immer noch länger. Der Staat bekam Augen.
Aber Shen wusste ja, warum das notwendig war. Die Regierung war beunruhigt. Rund hundertdreißig Millionen Wanderarbeiter zogen auf der Suche nach Lohn und Brot in China umher – fast halb so viele Menschen, wie in den ganzen USA lebten, und das in einem Land von vergleichbarer Größe. In fünfzehn Jahren, so die Prognosen, würden es dreihundertfünfzig Millionen sein. In Shenzhen waren von zwölf Millionen Einwohnern bereits sieben Millionen Wanderarbeiter. Und diese Wanderarbeiter genossen nicht die Rechte regulärer Stadteinwohner wie etwa staatlich finanzierte Gesundheitsversorgung und Bildung. Laut ihren Pässen waren sie immer noch in ihren Herkunftsdörfern gemeldet – Orten, wo es keine Arbeit gab und ihnen keine andere Wahl geblieben war, als in die Großstadt zu gehen. Auf diese Weise war ein Heer von Stadteinwohnern zweiter Klasse entstanden: verzweifelte Arbeitsuchende, die dieses Wirtschaftswunder erst möglich gemacht hatten – die aber mit zunehmender Wut auf ihre Lebensbedingungen reagierten. Zumal der Wohlstand um sie herum so offensichtlich war.
War das fair? Shen wusste, dass es das nicht war, aber er sagte sich, dass es keine Alternative gab. Wie sollte China die führende Weltmacht werden, zu der es bestimmt war, wenn nicht durch diese Opfer? Irgendjemand musste schließlich die Last tragen.
Shen hatte nicht am Projekt Goldener Schild mitgearbeitet, aber seine Firma hatte geheime Modifikationen an Router-Firmware vorgenommen. Er hatte keinen Zweifel, dass diese Backdoors innerhalb des gesamten Sicherheitssystems benutzt wurden.
Er musterte wieder die Kameras und Sensoren.
Er fragte sich, ob sie seine Nervosität erkannten. Er hatte seinem kommandierenden Offizier, General Zhang, versprochen, dass er Jon Ross auf ihre Seite holen könnte. Aber er hatte es nicht geschafft. Der Verlust der Backdoors zu westlichen Netzwerken war immer noch unaufgeklärt, und Shen wusste, wenn er nicht bald aufgeklärt wurde, würden eine Menge Köpfe rollen. Er konnte nur hoffen, dass seiner nicht darunter wäre.
Jon Ross hatte ihn auf die Modifikation der Chipsets angesprochen, die das Amt für allgemeines Militärgerät hinter dem Rücken der westlichen Abnehmerfirmen vornahm. Wenn Ross vom Verlust dieser Backdoors wusste, musste er von ihrer Existenz gewusst haben. Shen fragte sich immer noch, wie in aller Welt er an dieses Wissen gelangt war. Amerika und Europa waren doch gar nicht imstande, plötzliche, weitreichende Maßnahmen über Einzelunternehmen und Einzelstaaten hinweg vorzunehmen – oder auch nur E-Mails vernünftig mitzulesen! Es schien einfach unmöglich.
Shens Befürchtungen, weil er Ross nicht hatte umdrehen können, wurden dadurch
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