DARKNET

Jon Ross wieder aufgetaucht.»
    Überraschung durchschoss sie – dann Angst. «Wo?»
    «Shenzhen, China.»
    «China?»
Sie wollte fragen, wie er es geschafft hatte, dorthin zu kommen, aber das war natürlich eine alberne Frage. Jon Ross war Hacker und Identitätsdieb – er konnte sich in jeden verwandeln. Und wenn man Loki glauben durfte, war Ross jetzt obendrein auch noch Daemon-Agent. Sie nickte nur. «Eine Produktionsdrehscheibe von Weltrang. High-End-Elektronik.»
    «Das passt ins Muster. Nach unseren Erkenntnissen nistet sich der Daemon zunehmend in der Hightech-Produktionskette Asiens ein – und die Chinesen wissen, dass da irgendeine neue Kraft im Land aktiv ist. Aber sie wissen anscheinend nicht, was es ist. Sie glauben, dass es irgendwie mit Falun Gong zu tun hat – oder anderen oppositionellen Gruppierungen.»
    «Wer hat Jon aufgespürt?» Sie wappnete sich gegen die Antwort.
    «Eine Cyber-Kriegführungseinheit der Volksbefreiungsarmee. Jemand unter General Zhang Zi Min – dem Chef der Staatssicherheit. Sie führen in diesem Moment eine Operation durch, um Ross zu fassen …» Fulbright deutete auf den zentralen Bildschirm, auf dem, noch während er das sagte, wacklige Videobilder erschienen: schwerbewaffnete Spezialeinheiten, die hinter Hausecken lauerten. Es waren Dutzende von Männern. Ein tieffliegender Hubschrauber im Vordergrund versperrte kurz die Sicht. «Wir haben unverschlüsselte Botschaften abgefangen, so haben wir es erfahren. Ich muss Sie wohl nicht daran erinnern, dass – außer
Ihnen
 – niemand so viel über die Architektur des Daemon weiß wie Jon Ross. Wenn die Chinesen ihn kriegen –»
    «Das
Ragnorok
-Modul. Sie könnten den Daemon gegen uns einsetzen.»
    Fulbright nickte. «Unserer Meinung nach haben die Chinesen den IP -Beacon, den der Daemon sendet, noch nicht entdeckt – geschweige denn entschlüsselt. Aber wenn sie Ross gefangen nehmen, könnten sie an dieses Wissen kommen. Insbesondere an die Destroy-Funktion. Das gäbe den Chinesen die Möglichkeit, Daten von Unternehmen nach Belieben zu vernichten, und wer weiß, bei wem dieses Wissen noch landen würde. Wenn etwas an die Öffentlichkeit dringt, könnte es eine weltweite Börsenpanik geben.»
    «Aber die Chinesen haben Co-Investments mit Amerika, sie würden doch nicht –»
    «General Zhang ist hier der unberechenbare Faktor. Wir glauben, dass seine Leute für die heimlichen Hintertüren in Unternehmensroutern verantwortlich sind. Wie es scheint, schließt der Daemon sie sukzessive, und Zhang sucht immer verzweifelter nach einer Rechtfertigung seiner Existenz.»
    «Was soll ich tun?»
    Fulbright deutete auf mehrere Anzugträger, die zwischen den Generälen saßen und Philips beäugten. «Diese Herren wollen, dass Sie Ross in der Menge dort identifizieren. Bevor ihn die Chinesen kriegen.»
    Philips sah sich im Raum um und bemerkte jetzt plötzlich, wie viele Leute hier Besucherausweise trugen.
    «Natalie, bitte …» Er deutete mit dem Kinn in Richtung Videoschirm.
    Sie schaute zu dem Videobild empor, das jetzt auf die Gäste einer Martini-Bar einzoomte. Es sah aus wie die Perspektive eines Scharfschützen auf einem entfernten Dach. «Sie werden ihn töten.»
    Fulbright umfasste ihre Schulter. «Das wissen Sie doch nicht. Wir sollen ihn einfach nur unter diesen Leuten identifizieren, Doctor.»
    «Wer sind alle diese Männer?» Sie musterte die Kontraktfirmenvertreter, die sie unverblümt anstarrten.
    «Doctor, wir haben eine simple Weisung. Wir sollen Information liefern.»
    «Wem?»
    «Natalie, Jon Ross ist unserem Gewahrsam entkommen und in den Bereich einer fremden Macht geflüchtet. Er stellt eine ernste Bedrohung der nationalen Sicherheit dar.»
    «Aber –»
    «Keine Diskussion. Sie haben monatelang Seite an Seite mit ihm gearbeitet. Selbst wenn er inzwischen sein Äußeres verändert hat – Sie haben einen Blick für Details. Helfen Sie uns, ihn in der Menge da zu identifizieren.»
    Philips fühlte, wie ihr Puls sich beschleunigte, als sie auf den Videoschirm sah. Unmöglich, das konnte sie nicht tun. Und doch stimmte das, was Direktor Fulbright sagte. Ross besaß Informationen, die die Chinesen unbedingt haben wollten – die sie aus ihm herausfoltern würden. Was vielleicht sein Tod sein würde. Aber wenn sie ihn diesen Männern hier zeigte – was dann? Sie versuchte, ein Pokerface aufzusetzen, während ihr Gehirn die kalten Fakten immer wieder von sich wies.
    Die Kamera schwenkte über